Das BücherWiki - Ein Treffpunkt für Bücherfreunde

Gala Naumova

geboren 1962 in Rußland, Literaturwissenschaftlerin und Anthropologin. Lebt und arbeitet in Paris, München und St. Petersburg


Sibirische Heilgeheimnisse
Vom magischen Wissen der Taiga-Schamanen
Gala Naumova, im Atlantis-Verlag (Taschenbuch Bastei-Verlag) 1998 ISBN 3-404-70129-1

Auf der Suche nach sich selbst bereist Gala Naumova verschiedene Länder und Kulturen und findet sich schliesslich in den schamanischen Gesellschaften der sibirischen Taiga. Eine grosse Qualität dieses Buches ist die Ehrlichkeit und Intensität. Die erzählerische Form vereint mit profundem Sachwissen über die verschiedenen Weltkulturen macht diesen Tatsachenbericht spannend wie einen Roman. (* Quelle - mit weiteren Büchern zum Thema Schamanen)


Einleitung

Eigentlich könnte ich dem Beispiel des Grafen Keyserling folgen, der seinem »Reisetagebuch eines Philosophen« folgende berühmt gewordene Zeile vorausschickte: »Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.«

Im Herbst und Winter 1996-97 nahm mein Leben eine Wende, als ich in kurzer Zeit eine große Reise von Amerika über Europa nach Rußland unternahm, die mich weiter nach Sibirien führte, nach Tuva, in das Land der Schamanen an der Grenze zur Mongolei.

Ich befand mich in der Mitte meines Lebens und wußte plötzlich nicht mehr, wie dieses weiter verlaufen sollte: Ich lebte unter dem Zeichen des Verlustes der eigenen Identität, ich empfand mich als kosmischer Bastard, heimatlos zwischen Rußland, Deutschland und Amerika.

In Petersburg begegnete mir ein Schamane aus Sibirien, der erkannte, daß ich krank war, weil meine Seele verloren gegangen war. Er schickte mich nach Sibirien, in das Reich des Mythos und der schamanischen Trance, damit ich innerlich heilte und meine Seele wiederfände. So verwandelte sich meine wirkliche Weltreise, die durch die moderne Technik möglich wurde, in eine geistige Reise der Seele, eine Himmelsreise des Schamanen, die sich über die »obere« und die Buntere« Welt erstreckte. Auf diese Weise wurde mir die ursprüngliche Fähigkeit des Menschen bewußt, sich emporzuschwingen, und meine Seele erreichte in ihrem freien Flug über die Zeiten und Orte ihre archetypischen Erinnerungen.

Im Grunde unternahm ich eine Reise, um mich selbst wiederzufinden. Freilich hatte sie aber auch einen übergeordneten symbolischen Sinn: Es war die Suche nach der verlorengegangenen Spiritualität der westlichen, entzauberten Welt, nach ihrer verlorenen Empfindung für das Wunderbare, was zu einem Verlust der Wahrnehmung des Heiligen geführt hatte.

Es war eine Reise vom Zentrum der künstlichen modernen Welt in New York, dem Ort des rationalen Wissens und der Pragmatik der Macht, durch die Verkrustungen Europas, über Rußland in den Kernpunkt Asiens nach Sibirien - zu den Wurzeln der Menschheit und des archaischen, spirituellen Glaubens. Ich erfuhr die Suche einer Heimatlosen nach der Heimat. Im Verlaufe der Reise wurde mir klar, daß meine Heimat dort war, wo Metaphysik und Spiritualität noch ihren Ort haben. Mit dem jeweiligen Kulturkreis, oder der Sprache hatte ich keine Probleme, weil die Sprache der gelebten Metaphysik keine Übersetzung braucht. Instinktiv suchte ich Kulturen, die noch von archaischen Traditionen und Glaubensvorstellungen leben und durchdrungen sind. So habe ich früher meine geistige Heimat in Indien, Bhutan und Lateinamerika gefunden und jetzt wieder in Sibirien.

Sibirien wurde zum Zentrum, zum heiligen Ort, zum Ort der Wunder und geheimnisvollen Offenbarungen, zum Ort, der einen Durchbruch jenseits der Ebenen verkörperte vielleicht weil ich daran glaubte und alles mit den Augen des Kindes sah und mit Staunen und Bewunderung erfüllte. Ich habe dort nicht nur die starken Erinnerungen meiner eigenen Kindheit wiedererlebt, als plötzlich die Ereignisse meines Lebens in einem anderen Licht und einer anderen Bedeutung vor mir standen, sondern auch die archaischen Erinnerungen und Träume der Kindheit der Menschheit, die von Übernatürlichem, Wunderbarem gesättigt waren und die Verbindung mit Natur und Kosmos wiederherstellten.

Durch die Begegnungen mit den Schamanen veränderte sich das Bild von mir selbst. Gleichzeitig empfand ich das Bedürfnis, meine Erfahrungen und die erlebte Liebe an andere weiterzugeben. Es wurde mir klar: Man kann nicht glücklich sein, ohne die anderen glücklich zu machen. Diese einfache Weisheit ist der westlichen Welt verloren gegangen.

Meine Suche nach der Seele war der Weg der Erkenntnis. Die Erfahrung des Fremden half mir sehr dabei: andere Kulturen, das Andere kennenzulernen und dadurch auch sich selbst zu begegnen.

»Mensch zu sein, bedeutet sich zu erkennen und gleichzeitig zu transzendieren« (Nasr, Seyyed Hassein: Die Erkenntnis und das Heilige, München 1990)

Es war nicht immer leicht, dem Fremden zu begegnen und dabei offen zu sein und zu lernen, es zu schätzen und zu respektieren, aber nur auf diesem Wege konnte ich die eigene Kultur und mich selbst tiefer verstehen. Besonders reizte mich der Augenblick, in dem das Fremde von mir verstanden und aufgenommen wurde und plötzlich aufhörte, fremd zu sein, sich zum Eigenen verwandelte.

Im Grunde waren die archaischen Rituale, die ich erlebte, die Mythen und Lieder der Schamanen, ihre Sitten und Gebräuche gar nicht fremd, sondern nur vergessen; sie schlummerten tief im kollektiven Unbewußten, das durch die geistige Himmelsreise der Seele in Trance wiedererlebt wurde, indem sie in ihrem magischen Flug die mythischen Erinnerungen am Morgen der Zeit erreichte, als noch die natürliche Verbindung zwischen dem Himmel, der Erde, dem

Menschen und Gott existierte. »Dieser Flug bewies nochmals die Autonomie der Seele, ihren Sieg über den Tod. Gleichzeitig stand er auch für den Niedergang des modernen Menschen, da er im Verlauf der zivilisatorischen Entwicklung nicht nur verlernt hat, die geistigen Himmelsreisen zu vollziehen, was nun zum Privileg der Schamanen wurde, sondern auch die schönsten Träume seiner Kindheit zu bewahren.« (Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt/Main, 1974)

So schien dieses Land in den Sajanbergen, das am Rande der technischen Zivilisation blieb, der westlichen Welt ein Beispiel einer Kultur zu präsentieren, die ihr Heil und ihre Identität nicht in den modernen Technologien, sondern in der Natur selbst suchte, in welcher archaischer Glaube und Tradition tief verwurzelt waren. In diesem Sinne vermag der Schamanismus als spirituelle Urreligion, die seit Jahrtausenden sich in Magie, Ritual, Gesang, Dichtung, Tanz, Tracht sowie Heilkunst trotz aller Schwierigkeiten politischer und klimatischer Art erhalten konnte, die wichtigsten Fragen der Menschheit zu beantworten.

Die Nomadenvölker leben nicht in Angst, etwas zu verlieren, sie sammeln nichts - und darauf beruht ihre Freiheit, sie leben als Gleiche unter Gleichen. Teilt der Schamane seine Energien nicht weise ein, wird er krank, so krank wie der westliche Mensch.

Der westliche Mensch beging einen Fehler, indem er sich mit seinem Körper identifizierte und nicht mit seiner Seele, die inzwischen verlorenging. Hier liegt die Hybris seiner Existenz. Der Mensch verbraucht seine Zeit, seine Lebensenergie für Unternehmungen, die ihn nicht glücklich machen, weil das eigene Selbst, die Seele unglücklich ist.

Worin besteht also die schamanische Heilung? - Nicht nur in den starken Einwirkungen auf das psychische System, In dem der Mensch seine inneren Kräfte aktiviert und die Krankheit selbst besiegt, sondern vor allem in der Wirkung auf die potentielle Energie der menschlichen Seele, die im Trancezustand durch die schamanischen Mythen und Lieder hervorgezaubert wird.

Mein aufrichtiger Dank richtet sich deshalb an die tuvanischen Schamanen, deren Wirken in meinem Leben eine leuchtende Spur hinterlassen hat, die meine geistige Himmelsreise möglich machten und die mir bei meiner Suche nach der verlorenen Seele geholfen haben ...


OrdnerAutoren OrdnerRussland OrdnerSibirien

 
© BücherWiki Community bzw. die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am January 24, 2009