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Irina Scherbakowa

Irina Scherbakowa, geboren 1953 in Moskau, Historikerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie lehrt am Zentrum für Erzählte Geschichte und visuelle Anthropologie der Moskauer Staatlichen Humanistischen Universität (RGGU). Gleichzeitig ist sie Koordinatorin des russischen Geschichtswettbewerbs „Der Mensch in der Geschichte – Russland im XX. Jahrhundert“ für Jugendliche, der von der Gesellschaft * MEMORIAL*) seit 1999 mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung ausgerichtet wird. Irina Scherbakowa koordiniert zugleich auch das Sur-Place-StipendiatInnenprogramm? der Heinrich Böll Stiftung in Russland. Als Nichtregierungsorganisation setzt sich * MEMORIAL*) für die Aufklärung der sowjetischen Repression und den Schutz der Menschenrechte im heutigen Russland ein.


Irina Scherbakowa (Hrsg.)
Russlands Gedächtnis
Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten
Ein Lesebuch mit einem Vorwort von Fritz Pleitgen
430 Seiten mit 24 s/w Abbildungen, Softcover / 13x20 cm, ISBN 3-89684-041-X
Euro (D) 14,- /sFr 28,-

Die Nachricht aus Moskau weckte hohe Erwartungen. Einmaliges Material sei durch den Schülerwettbewerb »Der Mensch in der Geschichte – Russland im 20. Jahrhundert« zusammengekommen, teilte Irina Scherbakowa von der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL mit. Jährlich machen sich mehrere Tausend Schüler aus allen Teilen Russlands auf die Suche nach Lebensgeschichten ihrer Nachbarn und rekonstruieren die Erfahrungen von Menschen, die lange geschwiegen haben. Die ausgewählten Arbeiten lassen ein lebendiges Bild von der bisher unbekannten und verdrängten Seite russischer Geschichte entstehen und spiegeln den Umgang der heutigen Generation mit dem schweren Erbe der Vergangenheit wider. * Verlag edition Körber-Stiftunmg

Aus der Einleitung von Irina Scherbakowa

… Den vorliegenden Sammelband eröffnet eine Erzählung über das Leben einer Großmutter - einer Rentierzüchterin von der fernen Tschukotka. Ihr folgt die Geschichte eines Großvaters aus einem baschkirischen Dorf. Diese Parallele ist kein Zufall. Eine deutliche Mehrheit der Wettbewerbsteilnehmer hat sich der Geschichte ihrer Familie zugewandt. Sie dachten sich vermutlich: Wie kann man die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlicher und klarer beleuchten als anhand des Schicksals naher oder auch fernerer Verwandter? In diesem Sammelband finden sich mehrere solcher Arbeiten. Manchmal sind es lange Erzählungen, die hier leider häufig gekürzt werden mussten, wie zum Beispiel die Untersuchungen von Swetlana Bregei und Timur Galiullin. Manchmal sind es nur einzelne Episoden als Illustration von individuellen Schicksalen. Bei der Lektüre dieser Familiengeschichten mag es dem Leser wie mir gehen: man fühlt sich in einen riesigen Schmelztiegel der russischen Geschichte hineingezogen, in dem sich alle sozialen Schichten und die verschiedensten Nationalitäten miteinander vermischen. Die schwersten Prüfungen verbinden sie und es gibt nicht eine Familiengeschichte ohne Elend, ohne Gefängnis, ohne Krieg. ...

Zwei Ziele verfolgten wir mit unserer Aufgabenstellung an die jugendlichen Forscher: Zum einen wollten wir die abgerissenen Fäden zwischen den Generationen wieder knüpfen, Jung und Alt wieder miteinander ins Gespräch bringen. Zum anderen wollten wir erreichen, dass sich die jungen Leute über ihre Beschäftigung mit der Familie in die Situation ihrer Verwandten hineinversetzen können und sie verstehen lernen. Zum Beispiel, was es heißt, gegen den eigenen Willen aus der Heimat gerissen zu werden und sich oft unter schwierigsten Bedingungen in der Fremde wiederzufinden. Dies, so war unsere Annahme, würde die Schüler auch dazu bringen, ihre Erkenntnisse in der einen oder anderen Weise auf die Situation jener zu übertragen, die sich im heutigen Russland in einer ähnlichen Lage befinden: die Flüchtlinge etwa, aus Tschetschenien oder Aserbaidschan oder auch aus einer der Republiken Zentralasiens.

Für russische Schüler, die heute auf den Trümmern des Sowjetimperiums leben, ist es gar nicht so leicht, tolerant zu sein. Es schien uns aber, dass die Toleranz gegenüber Fremden ein Gegengift gegen den gerade unter den Jugendlichen im heutigen Russland stark vorhandenen Chauvinismus darstellt. Eine Medizin, die vielleicht am ehesten über die Beschäftigung der Kinder mit der Vergangenheit ihrer Familien wirken kann.

Das wichtigste Ergebnis des Wettbewerbs war die verstärkte Aufmerksamkeit und das Interesse am einzelnen Menschen in der Geschichte - und das war ja auch der Sinn der Sache. Dieses Interesse aber betraf nicht nur die normalen, einfachen Menschen, sondern auch Menschen mit zerstörten Schicksalen - ja sogar jene sozialen Außenseiter, die in der Vergangenheit im sowjetischen System öffentlich nicht präsent waren. Die Autoren näherten sich diesen Menschen in der Regel ohne Scheinheiligkeit und Heuchelei - und vor allem ohne Vorbehalte, wie sie unter den Angehörigen der älteren Generation weit verbreitet sind. Die Worte »Kulak« oder > Spekulant« lösen bei ihnen keinen Ekel oder negative politische Assoziationen aus.

Auf diese Weise kann auch ein Mensch wie Onkel Schura Held einer Geschichte werden, wie in der Geschichte von Kirill Sawodjuk. Onkel Schura, der ein Kriegswaise aus Stalingrad war und dessen Lebenstragödie vor allem darin bestand, dass er es nie schaffte, sein einziges Ziel zu erreichen: nämlich ein eigenes Haus - und sei es auch nur ein kleines - zu bauen.

In einer anderen Arbeit lesen wir, wie ein blutjunger Soldat wegen einiger unvorsichtiger Worte direkt von der Front ins Lager kam und dieses gerade so überlebte. In den Arbeiten tauchen damit die Umrisse jener auf, die keinerlei Erinnerungen zurücklassen konnten, die nichts über sich selbst erzählten, die in der Geschichte nur als trockene Zahlen in irgendwelchen statistischen Tabellen erscheinen ...

… Es gab auch Einsendungen, die man nicht nur als völlig unerwartet, sondern auch als historisch bedeutend bezeichnen kann. Wir hatten zum Beispiel nicht erwartet, eine so große Zahl von Arbeiten über die bäuerliche Vergangenheit Russlands zu erhalten, in denen schonungslos von der Entkulakisierung gesprochen wird, von der Zwangskollektivierung und vom Hunger. Es zeigte sich, dass viele Details und Einzelheiten der damaligen Vorgänge tief und fest im Gedächtnis haften geblieben sind und von Generation zu Generation weitergegeben wurden - viele unserer Schüler berichteten über die Geschichten ihrer Urgroßmütter und Urgroßväter. Welches Haus konnte sich der aus dem Bürgerkrieg zurückgekehrte Urgroßvater bauen, wie viele Fenster hatte es, wie viele Zimmer, welches Vieh hielt er, wann kaufte er eine Mühle, welche Kleider nähte man damals und so weiter. Mit ähnlicher Genauigkeit wird die Entkulakisierung beschrieben - was wurde einem wann weggenommen. Russlands Bevölkerung bestand bis zum Jahr 1917 zu rund 80 Prozent aus Bauern. Dennoch gibt es zu dieser Tragödie ungeheuren Ausmaßes nur äußerst wenige schriftliche Quellen und auch kaum Memoiren. Dies bedeutet, dass die russischen Schüler eine historisch sehr bedeutende und » erwachsene« Aufgabe erfüllt haben: Sie schafften es buchstäblich » in letzter Minute« jene Geschichte aufzuschreiben, die von Mund zu Mund weitergegeben wird, und das auszugraben, was » im Keller der Erinnerung« versteckt war ...


Nicht von Irina Scherbakowa, aber zum Thema russischer Jugendlicher:


Unruhige Zeiten
Lebensgeschichten aus Russland und Deutschland
Scherbakowa, Irina [Hrsg.] <übersetzt von Scholl, Susanne (russ. Texte)> (Russland)
Genre: Berichte, Sachbuch, Erinnerungen; Verlag: edition Körber-Stiftung 2006
kartoniert, 330 S. mit 5 s/w Abb., Glossar und Chronik zur dt.-russ. Geschichte
ISBN 978-3-89684-062-2; € (D) 14,50 / € (A) 15,00

Deutsche und Russen verbindet eine seltsame Faszination: Ihr historisches Verhältnis ist von Leid und Schrecken geprägt, kennt aber auch Zeiten großer Nähe und Vertrautheit. Wie lebten die Menschen, die in diesen Mahlstrom geschichtlicher Umwälzungen gerieten?

»Unruhige Zeiten« erzählt in sechzehn Lebensgeschichten vom Überleben in Ausnahmesituationen, von Kriegsgefangenschaft und Deportation, von Repression und Verfolgung – aber auch von Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, von Zuversicht und stillem Heldenmut.

Jugendliche aus Russland und Deutschland haben diese Erinnerungen aufgezeichnet. Ihre Beiträge sind bewegende Reflexionen einer jungen Generation, die ihren Blick auf die komplexen und tragischen Zusammenhänge der vergangenen Epoche richtet, um Wege für ein harmonisches Zusammenleben in der Zukunft zu finden.

Eine Sammlung ergreifender Arbeiten und ein bemerkenswertes Projekt, das ein ganz wichtiger Mosaikstein in der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit ist.


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© BücherWiki Community bzw. die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am 23. Juli 2007