Kai Ehlers
geboren 1944, Sachbuchautor.
Allgemeines & Leben
Kai Ehlers war aktiver Teilnehmer der 68er-Bewegung und der Neuen Linken. Er publizierte im Themenbereich Faschismus, Staat und Gesellschaft, insbesondere "Innere Sicherheit"/"Modell Deutschland", im Rahmen seiner Tätigkeit als Redaktor des "ak" (Arbeiterkampf), später "analyse&kritik".
Heute ist er selbstständiger Buchautor, sowie Presse- und Rundfunkpublizist; er hält Vorträge und führt Seminare und Workshops durch. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf den Wandlungen im nachsowjetischen, eurasischen Raum, aber auch Mongolei, Zentralasien, China, und deren lokalen und weltweiten Folgen.
Kai Ehlers engagiert sich für verschiedene Projekte des Ost-West-Dialogs und die diesbezüglichen Forschungsvorhaben. Er veröffentlichte Lyrik und Prosa in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Er ist zudem als Video-Dokumentarist und als Berater für Ost-West-Geschäfte tätig.
(Finanz- und Wirtschafts)-Krise: Suchbild Russland – wo ist der Fehler?
„Wir haben uns verrechnet. Der Absturz geht wesentlich tiefer“, das erklärte der russische Präsident Medwédew gegen Ende des letzten Monats. Man habe mit 2% Rückgang des Bruttosozialprodukts gerechnet, nun werde ein Einbruch von 8,5% erwartet. Es werde eine zweite Welle der Krise geben, die vermutlich nicht vor 2012 ende.
Schon in den Wochen zuvor hatte Medwédew mehrfach öffentlich seine Unzufriedenheit kundgetan. Er nannte Russland „rückständig und korrupt“, sprach von „erniedrigender Rohstoffabhängigkeit“, von einer Wirtschaft, welche die Bedürfnisse des Menschen ignoriere wie zu Sowjetzeiten. Schuld daran sei die „exzessive staatliche Präsenz“ in der Wirtschaft und die Tatsache, dass die Unternehmer eher auf Wsjátkis, Schmiergelder setzten, statt nach „talentierten Erfindern“ zu suchen und Innovationen zu entwickeln. Offenbar gehöre es nicht zur russischen Tradition, so Medwédew, sich selbst zu verwirklichen. Auch der Regierungsapparat arbeite „schleppend“ etwa bei der Vergabe staatlicher Bürgschaften.
„Wir arbeiten sehr langsam, für eine Krise zu langsam“, erklärte der Präsident.
Heftig kritisierte er auch eine mangelhafte Entwicklung des öffentlichen Dialoges. Er rief seine Landslaute dazu auf, gegen Korruption, Passivität und Trunkenheit anzugehen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, statt den Staat für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Natürlich solle man westliche Modelle nicht „mechanisch kopieren“, eine „Konfrontation und Isolierung“ sei aber ebenfalls gefährlich.
So eine Philippika hatte man in Russland lange nicht gehört. Kritiker, die es immer schon gewusst haben, durften sich bestätigt fühlen. Bahnen sich Entzweiungen zwischen Medwédew und Putin an? Schließlich gilt die Kritik der Regierung indirekt Putin. Droht Russland unter der Krise zusammenzubrechen oder – die andere Variante – sind die öffentlichen Ermahnungen des Präsidenten etwa Signale einer neuen Westöffnung Russlands?
Zwei Ansichten stehen zu diesen Fragen scheinbar hart gegeneinander, beide interessanterweise in derselben Ausgabe der einschlägigen „Russlandanalysen“ nachzulesen. (September Nr. 187) Da finden sich zunächst unter der Überschrift „Russlands finanzielle Verwundbarkeiten“ die gleichen Punkte, die auch Medwedew beklagt:
• Abhängigkeit von Rohstoffexporten.
• Stockende Finanzströme zwischen den Sektoren der russischen Wirtschaft, die das „Schreckgespenst der „Demonetarisierung“ des Landes entstehen ließen.
• Eingeschränkte Mittel für die „Modernisierung bis zum Jahr 2020“, weil staatliche Fördergelder fehlten.
Ein paar Statistiken weiter, die diese Erwartungen mit Zahlen begleiten, werden unter der Überschrift: „Russische Direktinvestitionen im Ausland. Weiterer Anstieg trotz der globalen Krise“ reichlich Fakten dazu vorgetragen, in welchem Umfang russisches Kapital zur Zeit auf den internationalen Kapitalmarkt drängt.
Das pure Gegenteil also: „Nach dem zwar noch relativ moderaten aber beständigen jährlichen Wachstum von um die 10% in den 1990er Jahren schossen die Direktinvestitionen aus Russland in den folgenden Jahren steil in die Höhe – zwischen 2000 und 2007 wuchsen sie um mehr als das Zehnfache.“
Und zur jetzigen Situation: „Obwohl die multinationalen Unternehmen mit Sitz in Russland – wie alle Großkonzerne – 2008 einen erheblichen Wertverlust ihrer internationalen Aktiva hinnehmen mussten, wachsen die Direktinvestitionen aus Russland auch nach Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise weiter.“
Mit dieser Entwicklung stehe Russland neben China zur Zeit einzig da. Zudem merkt der Autor dieser Untersuchung noch an, die Statistiken zu diesen Daten würden dadurch verzerrt, dass ein großer Teil der russischen Investitionen im Ausland nicht direkt aus Russland, sondern über Offshore-Zonen und Steueroasen abgewickelt werde.
Hintergrund all dieser Geschäfte, bleibt zu ergänzen, sind die bisherigen rigiden Versuche des Westens, insonderheit der EU, russische Investitionen im westlichen Ausland mit allen Mitteln zu unterbinden.
An Beispielen für solche russischen Geldanlagen mangelt es in dem Heft nicht: Da ist zunächst Gasprom, dessen Versuche, sich eine Verwertungskette in Europa und anderswo aufzubauen unter den Stichworten Ostseepipeline, Süd-Pipeline uam. hinlänglich bekannt sind. Zu nennen sind auch die vorübergehenden Beteiligungen der Oligarchen Deripaska beim deutschen Bauriesen Hochtief, Rustam Aksenenkos bei der deutschen Firma Escada, schließlich noch Alexej Morschadow mit 15% bei TUI, die Finanzierung von Magna/Opel durch die russische Sperbank und den russischen PKW-Produzenten GAZ und schließlich die Übernahme der Schiffswerft Wadan durch das Vorstandsmitglied bei Gasprom, Igor Jusofow. Damit sind nur die Größten benannt.
Nicht erwähnt wird der erfolgreiche Versuch der russischen Regierung, mit dem Projekt „ROSNANO“ durch ein supergünstiges Kreditierungsangebot an ausländische Wissenschaftler und Unternehmensgründer in Spe modernste NANO-Technik ins Land zu ziehen.
So widersprüchlich diese Analysen ausländischer Beobachter, so widersprüchlich ist auch das Verständnis in Russland selbst: Boris Kagarlitzki, im Westen bekannt als scharfsinniger Kopf der russischen Globalisierungsgegner versteht Russlands Auslandsinvestitionen als Ausverkauf des russischen Reichtums: Russland, so Kagarlitzki, sei gezwungen, mit seinem Kapital die westlichen Konzerne zu sanieren, nachdem die sich dadurch in Schwierigkeiten gebracht hätten, dass sie durch Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer die Produktion hochgetrieben, die globale Konsumkraft dadurch aber soweit gesenkt hätten, dass sie auf ihren Produkten sitzen blieben. Russland sei gezwungen, seine aus dem Verkauf der Ressourcen angesparten Notgelder jetzt dafür einzusetzen, diese Konzerne zu retten, wenn es nicht selbst mit untergehen wolle.
„Das“, so Kagarlíztzki, „ist gut für die internationalen Konzerne, aber schlecht für Russlands Arbeiter, die in verrottenden heimischen Betrieben zurück bleiben, wo es manchmal nicht einmal mehr für Lohnzahlungen reicht.“
Im russischen „bísnes“ dagegen sieht man die Krise als Chance, sich billig in die internationalen Kapitale einzukaufen. „Bolschói Poker“, ein großes Pokerspiel gehe vor sich, so wurde mir erklärt, als ich in Moskau nach einer Beurteilung der Geschäfte um Magna, Opel, Wadan-Werft und andere fragte. Darüber hinaus sorge die Krise für eine Bereinigung der russischen Wirtschaft von Parasiten, die nur verdienen wollten. Arbeit müsse nicht nur verwaltet, sie müsse auch getan werden. Die Krise werde dazu führen, dass nur das produziert und auch bezahlt werde, was wirklich gebraucht werde.
Wer will gegen diese Logik etwas sagen? Sie ist so wahr wie die Sicht Kagarlítzkis wahr ist. Daten und Fakten gibt es für beide Seiten, ebenso wie für beide Sichtweisen in den „Russlandanalysen“, die der Verwundbarkeit Russlands ebenso, wie der Russlands als Hochburg internationaler Investitionen. Wo liegt der Fehler in diesem Bild? Was fehlt?
Bleiben wir einfach: Es fehlt der Bereich, der in den „Russlandanalysen“ – methodisch richtig, aber dann unberücksichtigt, und zwar von allen hier genannten Positionen aus – der „nicht finanzielle Sektor“ genannt wird.
Aber genau in ihm liegt der Schlüssel zum Verständnis, wie die Krise auf Russland wirkt und zwar aus einem doppelten Grunde:
Erstens ist Russlands Abhängigkeit von seinen Ressourcen, auch wenn aktuellen Schwankungen unterworfen, zugleich auch seine strategische Versicherung.
Zweitens ist Russlands „nicht finanzieller Sektor“, in Russland „familiäre Zusatzversorgung“ genannt, kurz, seine Datschenkultur, also, seine Tradition der gemeinschaftlichen und individuellen Selbstversorgung, ein sozio-ökonomisches Polster, das bisher jede Krise abgefedert hat und es auch jetzt wieder tut.
Kritisch kann man sagen, die Finanzflüsse können sehr weit eingeschränkt werden, ohne dass irgendjemand gleich auf die Straße geht. Es müssen schon diese Grundlagen selbst in Gefahr sein.
Wer könnte sich in Deutschland wohl auch nur eine Sekunde lang vorstellen, dass – sagen wir – Opel im Interesse der Sanierung des Gesamtwerkes zwar weiterarbeiten lässt, aber nicht nur reduzierten, sondern gar keinen Lohn mehr bezahlt, wie das in Russland immer wieder in der Geschichte geschah und auch gegenwärtig wieder geschieht? Erinnern wir uns an Pikaljéwo im Mai dieses Jahres, wo eine ganze Stadt außer Lohn gesetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund sind alle Erwartungen, Befürchtungen oder auch Hoffnungen auf einen baldigen Zusammenbruch Russlands nichts anderes als reine Spekulation und Medwédews Warnungen bekommen den Charakter einer Mimikry.
Es fragt sich nur wem sie gilt, dem Westen oder seinen eigenen Leuten? Den Aktionären oder den Unternehmern? Diese Frage bleibt offen.
Von Kai Ehlers erscheint in Kürze:
Von Russland lernen? Eine Provokative Frage
(Über)leben zwischen Supermarkt und Datscha - „Kartoffeln haben wir immer“
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Eine Woche Tarussa: Teilaufnahme einer Sommerrecherche
Zur Frage, welche Gestalt die Krise in Russland hat
Am Anfang steht meine Frage: Was hat sich in einem Jahr verändert? Wie wirkt sich die Krise auf die russische Bevölkerung aus? Welche Auswege werden gefunden? Wie lebt man in Russland zwischen Supermarkt und Datscha?
Finanzkrise russisch – das Wunder von Pikaljewo
In einer russischen Kleinstadt geschah am 4. Juni 2009 ein Wunder, das die Gesetze außer Kraft zu setzen scheint, nach denen die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher in der Welt verläuft. Während in St. Petersburg das russische Wirtschaftsforum mit ca. 3000 Gästen tagte, wo Präsident Medwedew den weltweiten Kampf gegen die Wirtschaftskrise mit dem Kampf gegen den Faschismus verglich, sah der russische Premierminister Wladimir Putin sich gezwungen, einem Feuerwehrmann gleich zu einem Kriseneinsatz in die Provinz zu eilen.
Atomdialog – liebt Russland die Bombe?
„Moskaus Liebe zur Bombe“ las man kürzlich in der FAZ. Man ist irritiert. Hat man sich an das freundliche „Change“ auf allen Seiten doch schon gewöhnen wollen: Obamas atomare Abrüstungsinitiative, das Ende des Raketenstreits, neue Gespräche zwischen Russland und NATO, Erneuerung der Partnerschaft zwischen Russland und EU, ja, sogar die Bereitschaft seitens der EU, die Vorschläge Medwedews für ein „Zweites Helsinki“ zu erörtern. Hat man sich also getäuscht? Sind die Russen, was sie immer waren: machtgierig und gefährlich? Wollen sie den Preis für die Entspannung hochtreiben, weil sie wissen, dass Obama angesichts des fatalen Bush-Erbes Erfolge braucht?
Solche und ähnliche Vermutungen kann man den Medien entnehmen, seit der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew Mitte Oktober in der „Iswesttija“ Einzelheiten über eine neue Militärdoktrin mitteilte, die im Dezember verabschiedet werden soll. Kern: Russland wolle die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen senken: In einer für die nationale Sicherheit kritischen Situation werde ein präventiver Atomschlag gegen Angreifer nicht ausgeschlossen. Das gelte auch für Angriffe auf regionaler oder lokaler Ebene.
Tags darauf wies Pawel Solotojow, Vizedirektor des USA- und Kanada-Institutes in Moskau, Prof. an der Akademie der Militärwissenschaften und Präsident der Stiftung für Unterstützung einer Militärreform, in einem Gespräch mit „Ria Nowosti“ Kritiken an Patruschews Ankündigungen mit der Begründung zurück, je höher der Grad der Ungewissheit darüber sei, wann Atomwaffen eingesetzt werden dürften, desto effektiver sei die Abschreckung. Die Rede sei jetzt nicht mehr nur von einem „umfassenden Krieg wie früher, als die Gefahr von den USA ausging .. und es nur mit den USA einen großangelegten Krieg geben konnte. Da wir aber nicht (gemeint ist – nicht mehr – d.V.) Feinde der USA sind, tritt die Atomwaffe in unseren gegenseitigen Beziehungen im Sicherheitsbereich in den Hintergrund. Wir und die USA sehen sie als einen Belastungsfaktor und denken mehr daran, wie wir bei der Nichtverbreitung zusammenarbeiten könnten. Eben dazu wird eigentlich der neue Vertrag vorbereitet – nicht etwa dazu, einander durch Visiere anzusehen und zu zählen, wer wie viele Raketen hat“.
Auf die Frage, ob Moskau mit dieser neuen Doktrin nicht den Defensivcharakter seiner bisherigen Militärstrategie aufgebe, entgegnete Solotojow: „Es ist einfach so, dass der Aufgabenbereich über den alten Rahmen hinausgeht, weil jene Variante der Abschreckung, die in all den Jahren des kalten Krieges am wichtigsten war, ... nicht mehr aktuell ist. Da es aber Atomwaffen in der Welt gibt, müssen umfassendere Aufgaben der atomaren Abschreckung festgeschrieben werden.“ Konventionelle Waffen reichten nicht mehr; es gebe keine Garantie, dass man lokalen Konflikten gewachsen sei. „In Anbetracht dessen, dass Russland seinen Streitkräften ein neues Gesicht geben will, dass diese folglich zahlenmäßig reduziert werden, nimmt auch die Mobilmachungsbereitschaft sowohl der Wirtschaft als auch der Menschenreserven ab.“
Aus berufenem Munde war auch noch zu hören, warum die Zahl der Atomsprengköpfe nicht unter 1500 gesenkt werden dürfe, wie Obama es vorschlug, der 1000 als Ziel genannt hat. Generaloberst Nikolai Solowzow warnte bei einer Tagung im Schulungszentrum der strategischen Raketentrupps in Balabanowo vor amerikanischen Plänen, strategische Raketen mit hochpräzisen konventionellem Sprengkopf ausrüsten zu wollen. Damit könne die internationale Sicherheit untergraben werden. Die existierenden Vorwarnsysteme seien nicht in der Lage festzustellen, mit was für einem Sprengstoff eine anfliegende Rakete ausgerüstet sei. Die angegriffene Seite werde von der schlimmsten Variante ausgehen, einen nuklearen Sprengstoff vermuten und entsprechend reagieren. Das könne die Menschheit an den Rand einer nuklearen Katastrophe bringen.
Dass die Argumente dieser Riege von Militärköpfen im Westen sämtliche antirussischen Reflexe mobilisieren, liegt auf der Hand. Ein ähnlicher Effekt ließe sich allerdings problemlos mit Aussagen von US-Militärs oder NATO-Vertretern erzielen. Ein solches Vexierspiel macht jedoch keinen Sinn. Die Frage ist vielmehr, ob mit solchen Positionen die Wirklichkeit beschrieben ist.
Senkt Russland die nukleare Schwelle? Tatsächlich sehen schon die Doktrinen von 2005 und 2007 vor, dass bei Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ mit dem Einsatz von Atomwaffen geantwortet werden könne. Diese Formulierungen waren eine Antwort auf die Senkung der atomaren Schwelle durch die Bush-Administration. Weder bisher noch jetzt ist auf russischer Seite jedoch von der Herstellung einer „Erstschlagsfähigkeit“ die Rede, sondern – im Unterschied zum US-Programm des „global strike“ – immer noch von einer R e a k t i o n. Die Androhung einer „präventiven Reaktion“ aber spricht wohl eher von Verwirrung als von Aggression.
Sind die USA und Russlands jetzt Partner? Obama scheint gewillt zu sein, einige entscheidende Hindernisse, die die Bush-Ära in den Beziehungen zwischen Russland und den USA hat entstehen lassen, beiseite zu räumen: Das war zunächst die Aussicht, dass nach dem Auslaufen von START I ab Januar 2010 keine Vereinbarungen zur Begrenzung der strategischen Waffen zwischen den wichtigsten Waffenträgern – USA und Russland – mehr bestünde und damit eine Phase der Hochrüstung notwendig einsetzen müsste. Das hätte für beide Seiten eine Belastung ohne strategischen Nutzen bedeutet, der nur Kosten verursacht hätte. Schon jetzt liegen auf beiden Seiten doppelt so viele Bomben auf Halde und im Altbestand wie einsetzbar sind. (USA 5200 aktive Köpfe, davon 2700 Reserve plus 4200 Altbestand; Russland 4830 aktive Köpfe, davon 2043 Reserve und 8.150 Altbestand ) Eine Reduzierung kommt einer Verschrottung des Alt- und Effektivierung des Neu-Bestandes gleich. Ernst würde es dann, wenn eine Vereinbarung auf tendenzielle Vernichtung a l l e r, auch der bereits ausgelagerten Atomwaffen getroffen oder zumindest anvisiert würde. Solange das nicht geschieht, kann von einer neuen Beziehung zwischen den beiden Atommächten nicht gesprochen werden.
Das Gleiche gilt für die Raketenfrage: Solange Obamas Begründung für die Stornierung des Stationierungsprogramms in Osteuropa nur damit begründet wird, ein uneffektives System durch ein effektiveres ersetzen, das die USA allein neu aufbaut, hat sich in der Beziehung zwischen Russland und den USA nicht Qualitatives geändert, bleibt die Rücknahme ein Akt der Propaganda, so wie es vorher die Stationierung war. Auch sie war keine effektive Bedrohung Russlands, sondern eine Provokation.
Mit Skepsis ist auch die neue Debatte um Medwedews Vorschlag einer „Europäischen Sicherheitsarchitektur“ zu betrachten. Solange Medwedew dabei unter den Verdacht gestellt wird, mit dem Vorschlag die Expansion von NATO und EU eingrenzen zu wollen und die von Medwedew nach wie vor vertretene Perspektive der mulipolaren Neuordnung im globalen Rahmen ausgeblendet bleibt, kann auch hier von einer neuen Orientierung nicht die Rede sein.
Bleibt schließlich der marode Zustand der russischen Armee, die nicht in der Lage sei, das Land mit konventionellen Kräften zu schützen. Tatsache ist, dass die Rote Armee nach Auflösung der SU zerfiel, ihre Umstellung auf eine professionelle Truppe überfällig ist. Das schlimmste Zeugnis bekam diese Armee in Tschetschenien ausgestellt. Erst 2005 hat Putin die Armeereform ernsthaft angeordnet; die größten Umstellungen stehen noch bevor. Tatsache ist aber auch, dass diese Armee immer noch in der Lage war, einem Saakaschwili Einhalt zu gebieten, ohne dass die NATO diesen Vorgang zum Kriegsfall hochstilisierte.
Betrachtet man all dies, dann zeigt sich, dass die gegenwärtigen Maßnahmen der Entspannung und Abrüstung zwar zu begrüßen sind, von der Hinwendung zu einer neuen Ordnung, gar einer globalen Friedensordnung kann bisher jedoch nicht die Rede sein, solange „Change“ nur bedeutet, dass die USA neue Regeln aufstellen, um ihren verlorenen Einfluss wiederherzustellen – und seien sie noch so sympathisch vorgetragen. Solange das so bleibt, werden aus Russland, wie übrigens auch aus anderen Teilen der Welt, nicht zuletzt auch aus China, trotzige Doktrinen der Selbstverteidigung zu hören sein. In neue Bereiche stieße die internationale Politik erst dann vor, wenn nicht mehr Hegemonien, sondern im Einvernehmen der neu herausgebildeten globalen Integrationsräume eine kooperative Pluralität angestrebt würde.
1)14.10.2009
2)15.10,2009
3)Welt online, 18.10.2009
4)Atomwaffen-heute
THEMA NATO
Im April 2009 findet in Straßburg, Kehl und Baden-Baden der NATO-Gipfel statt. Allein auf deutscher Seite ist der Einsatz von rund 15.000 Polizeibeamten vorgesehen. Die Bundeswehr wird mit Abfangjägern, Transporthubschraubern, Sanitätern, Motorradeskorten sowie Bussen, Personen- und Lastwagen dabei sein.
Unser Autor Kai Ehlers schreibt dazu:
Öl-NATO contra Gas-Russland
Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt
Zwei Strategien zur Sicherung der globalen Versorgung mit fossilen Energien stehen sich heute gegenüber: Auf der einen Seite die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Lugar erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Zbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird. Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauch zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Kai Ehlers
Russland – Herzschlag einer Weltmacht
Hintergründe, Analysen, Gespräche, Briefe, Bilder, Perspektiven – ein authentischer Blick auf Russland
Mit ca. 20 Zeichnungen von Herman Prigann
300 S., geb. m. Schutzumschlag, ISBN 978-3-85636-213-3, € 24,80, CHF 39.80
Glasklare historische und politische Analysen.
Spannende Erkundungen im russischen Kulturraum.
Dialogische Auseinandersetzungen auf höchstem Niveau.
Grundlagen für eine Neugestaltung der russischen Gesellschaft.
Mit neuem Selbstbewusstsein kehrt Russland auf die Bühne der Weltpolitik zurück. Ein Land, das noch vor wenigen Jahren in Armut und Chaos versank, hat sich auf seine eigenen Kräfte besonnen. Muss der Westen das wieder erstarkte Russland fürchten? Wird er Russlands soziale und kulturelle Entwicklungskräfte erkennen und von ihnen profitieren, statt sie einzudämmen? Kann Russlands Fähigkeit, gestärkt aus Krisen hervorzugehen, Impulse für einen globalen Wandel geben?
Was ist das Russische an Russland? Eine bescheidene Plattenbauwohnung in einem Moskauer Vorort ist Schauplatz eines Dialogs zwischen dem deutschen Russlandkenner Kai Ehlers und dem russischen Schriftsteller und Journalisten Jefi m Berschin, der authentische Einblicke in die Umwälzungen der nachsowjetischen Ära gibt. Im Gedankenaustausch treffen Skepsis und Sympathie, Innen- und Außenperspektive aufeinander und geben den Blick auf die Grundmotive russischer Mentalität, Geschichte und Kultur, geografi scher und geopolitischer Besonderheiten frei, die Russlands Entwicklung prägen und sich nur auf seinem Boden entfalten können.
Aus dem Inhalt:
I. Tage in Chimki: Im Labyrinth der russischen Wandlungen | Smuta – Zeit der Wirrungen | «Faktor Mensch» | Objekt Russland?
II. Ausflug nach Tarussa: Entwicklungsland neuen Typs oder Imperium neuen Typs?| Globale Smuta – Der Mensch in der Krise der Kultur | Ausweg westliche Werte? | Russland – Modell der Welt?
III. Widerspiegelungen: Troiza – Das Gewicht der Leere | Elemente einer anderen Ethik
«Meine Absicht ist, erkennbar zu machen, wie Russland sich in widersprüchlichen Windungen und Wendungen, aber doch als untrennbares lebendiges und im Tiefsten friedliches Ganzes entwickelt ... Diese Metamorphose des Landes soll hier auch in der Methode nachgezeichnet werden, im Umkreisen dessen, was das Russische an Russland ist, und der Impulse, die aus seiner Krise hervorgehen, in Gesprächen und Briefen. » Kai Ehlers
Zu beziehen über alle Buchhandlungen - oder auch direkt beim Autor:
Kai Ehlers, 22147 Hamburg, Rummelsburgerstr. 78, Tel: 040 / 64 789 791; Mobil: 0170 / 27 32 482
Aus einer Rezension von Christoph D. Brumme:
" ... Zu den Vorzügen des Buches gehört die Methodik der Darstellung. Es wird geradezu beispielhaft vorgeführt, wie weit reichend die Betrachtungsweise sein sollte, will man sich den schwierigen Fragen über Russlands künftige Entwicklung stellen. Die Denkfigur des (kretischen) Labyrinths wird als Vorbild für den Verlauf der Gespräche gewählt, was dem Leser bald einleuchtet, da diese Vorgehensweise es den Autoren erlaubt, die Frage nach der Entwicklungsdynamik Russlands aus sieben unterschiedlichen Perspektiven zu studieren.
Es wird keine billige Personalisierung von Politik oder Geschichte betrieben, der Denker Ehlers und der Poet Berschin erörtern im Dialog auch die schwierigen, schmerzhaften Fragen: die Ursachen für die Brutalität in der Armee, die GreueltatenGräueltaten? in den Kriegen, die auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion stattgefunden haben ...
... Echte Brisanz erlangt das Buch jedoch an seinem Ende, im achten Gang, bei der Frage, ob in Russland „Elemente einer neuen Ethik“ zu erkennen seien. Hier scheint der gute alte Fjodor Michailovitsch Dostojevskij die beiden Gesprächspartner inspiriert zu haben. „Der Mensch findet sich heute in der Leere des Kosmos, im Nichts. Darin liegt für mich die tiefste Bedeutung Russlands als Modell. In Russland zeigt sich exemplarisch, was geschieht, wenn Menschen Angst vor der Leere haben. Russland könnte vielleicht ein Modell für die Welt sein.“ So Berschin. Kai Ehlers sieht in der Tradition der Gemeinschaftskultur, durch welche sich Russland grundsätzlich vom westlichen Europa unterscheidet, eine nahezu utopische Chance, weil sie den Menschen auch unter schwierigsten materiellen Bedingungen das Überleben ermöglicht. In diesem Sinne könne die Welt, könne Europa von Russland lernen. Das mag zunächst befremdlich klingen. Doch je länger die weltweite Krise des Modells der westlichen Industriegesellschaften andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass die belächelten Utopien bald brauchbare Ratgeber für die Praxis der nächsten Jahrzehnte sein werden. Voraussetzung allerdings wäre eine Versöhnung Europas mit sich selbst, mit seinen kommunistischen Irrtümern, und mit dem Eingeständnis des westlichen Europas, dass auch die Jakobiner-Diktatur zur Tradition der Aufklärung gehört. Der interessierte Besucher kann demnach im gegenwärtigen Russland Deutschlands Zukunft besichtigen."
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