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Ossip Mandelstam

Ossip Emiljewitsch Mandelstam (russisch Осип Эмильевич Мандельштам); geb.: 3. (15.) Januar 1891 in Warschau; gest.: 27. Dezember 1938 bei Wladiwostok

"Ein Sonderling? Natürlich ein Sonderling. Die tragische Figur eines ganz seltenen Dichters, der auch in den Jahren der Woronescher Verbannung Gedichte von unsagbarer Schönheit und Kraft schrieb." (AnnaAchmatova)


Leben & Werk


Nadescha Mandelstam an Ossip Mandelstam (Der letzte Brief)

<Moskau, 22. Oktober 1938>

Ossja, liebster, ferner Freund! Mein Lieber, ich habe keine Worte für diesen Brief, den Du vielleicht nie lesen wirst. Ich schreibe ihn in den Raum hinaus. Vielleicht kommst Du zurück, und ich werde nicht mehr dasein. Dann wäre dies das letzte Andenken

Ossjuscha, was war mein kindliches Leben mit Dir für ein großes Glück. Unsere Streitgespräche, unsereZänkereien, unsere Spiele und unsere Liebe. Jetzt schaue ich nicht einmal mehr zum Himmel hinauf. Wem sollte ich es zeigen, wenn ich eine Wolke sehe?

Erinnerst Du Dich, wie wir unsere kargen Festmähler in unsere armseligen Unterkünfte und Nomadenzelte schleppten? Weißt Du noch, wie gut das Brot war, wenn es wie durch ein Wunder vor uns lag und wir es zu zweit aßen? Und dann der letzte Winter in Woronesch. Unsere glückliche Armut und die Gedichte. Ich weiß noch, wie wir aus dem Badehaus kamen und Eier oder Würstchen gekauft hatten. Ein Heuwagen fuhr vorbei. Es war noch kalt, und ich fror in meiner Joppe (ein ganz anderer Frost steht uns also noch bevor: ich weiß, wie Dir jetzt kalt ist). Und ich habe diesen Tag im Gedächtnis behalten: mir war bis zum Schmerz klar, daß dieser Winter, diese Tage, diese Not das beste und letzte Glück war, das uns zufiel. Jeder Gedanke gilt Dir. Jede Träne und jedes Lächeln auch. Ich preise jeden Tag und jede Stunde unseres bitteren Lebens, mein Freund, mein Gefährte, mein blinder Blindenführer ...

Wir stießen einander an wie blinde junge Hunde und fühlten uns wohl dabei. Und Dein armer, fieberheißer Kopf und all der Wahnsinn, mit dem wir unsere Tage verbrannten. Was war das für ein Glück − und wie haben wir doch immer gewußt, daß gerade das unser Glück war. Dieses Leben ist lang. Wie lang und mühsam, wenn einer ohne den andern sterben muß. Ist uns beiden − den Unzertrennlichen − wirklich dieses Los beschieden? Haben wir zwei junge Hunde, wir Kinder − hast Du, der Engel, das verdient? Und alles geht weiter. Ich weiß nichts. Und doch weiß ich alles, und jeden Deiner Tage und jede Stunde sehe ich wie ineinem Fiebertraum klar und deutlich vor mir.

Jede Nacht bist Du im Traum zu mir gekommen, und ich fragte Dich immer, was passiert sei, aber Du hast nicht geantwortet. Und dann dieser letzte Traum: ich kaufe an einem schmutzigen Büfett eines schmutzigen Hotels irgendetwas zu essen. Um mich herum irgendwelche wildfremden Leute, und nachdem ich es gekauft habe, begreife ich, daß ich gar nicht weiß, wohin ich all das Gute bringen soll, denn ich weiß ja nicht, wo Du bist. Als ich aufwachte, sagte ich zu Schura: Ossja ist gestorben. Ich weiß nicht, ob Du noch lebst, aber von dem Tag an verlor ich Deine Spur. Ich weiß nicht, wo Du bist. Ob Du mich hören kannst? Weißt Du, wie sehr ich Dich liebe? Ich habe es nicht geschafft, Dir zu sagen, wie sehr ich Dich liebe. Ich kann es auch jetzt nicht sagen. Ich sage nur immerzu: Du, Du ... Du bist immer bei mir, und ich, die wilde und böse, die nie richtig weinen konnte − ich weine, ich weine. Das bin ich − Nadja. Wo bist Du?

Leb wohl.
Nadja.

Ossip Mandelstam
Du bist mein Moskau
und mein Rom und
mein kleiner David

Gesammelte Briefe 1907 − 1938
Ammann Verlag
ISBN 3−250−10410−82/2


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