Russlands Vergessene Autoren
Dmitri Mamin-Sibirjak, "der Sibirer", und
Pjotr Boborykin, der vergessenste Schriftsteller seiner Zeit
von Hanns-Martin Wietek
Ob sie Oden an den Herrscher geschrieben, versteckte oder heftige Kritik an den Herrschern geübt oder journalistisch berichtet haben, ob sie ihre Meinung gefühlvoll, mit feiner Ironie und Satire, brutal und derb oder sachlich aufzeigend vertraten, ob sie aus dem Adel kamen, aus dem einfachen Volk, dem geistlichen Stand oder ob sie Wissenschaftler waren, ob ihr Thema das Bauerntum, der Adel, die Herrscher oder der europäische Westen war – immer sind die russischen Schriftsteller Chronisten ihrer Zeit, ja, quasi das Gewissen der russischen Volksgemeinschaft gewesen und das wollten sie auch sein, denn eine auch nur annähernd erfolgreiche politische Opposition gab es in Russland nie.
Wenn man nun diese Chronisten aus westeuropäischer Sicht (aber nicht nur, dasselbe gilt bis zu einem gewissen Grad auch aus russischer Sicht – hier kommt allerdings noch bewusste Geschichtsklitterung durch die sozialistische Literaturkritik hinzu) Revue passieren lässt – den Oden an den Herrscher schreibenden und zugleich als Wissenschaftler tätigen Lomonossow (*1711, †1765), den Geschichtsschreiber Karamsin (*1766, †1826), den romantisch-revolutionären Puschkin (*1799, †1837), den religiös-zeitkritischen, gegen das Bürokratentum anschreibenden Gogol (*1809, †1852), den tiefenpsychologisierenden Dostojewski (*1821, †1881), den bissigen Satiriker Saltykow-Schtschedrin (*1826, †1889), den journalistisch-sachlichen Leskow (*1831, †1895), den durch und durch adligen, vom russischen Bauerntum das Heil erwartenden Tolstoi (*1828, †1910), den ironischen, ja süffisanten Tschechow (*1860, †1904), den vom Recht besessenen Journalisten Korolenko (*1853, †1921) und den romantisch-sozialrevolutionären Gorki (*1868, †1936) (um nur an einigen die große Linie aufzuzeigen) – wenn man also diese (und alle anderen) Chronisten Revue passieren lässt und die Themen ihrer Werke betrachtet, so wird eine deutliche Lücke sichtbar: Ihre Themen sind der Adel (dekadent oder verherrlichend), selbstverständlich das Zarentum und die Religion, die Intelligenzija, die Bürokraten und der einfache Mensch und der meist duldsame, Gott und den Zaren liebende Bauer; aber dann taucht bei Gorki auf einmal eine sozial geknechtete und ausgebeutete Arbeiterschicht auf, die plötzlich aufbegehrt und von der vorher scheinbar nie die Rede war.
Diese Lücke füllen die im Schatten der Großen verschwundenen Dmitri Narkissowitsch Mamin-Sibirjak (*1852, †1912) und Pjotr Dmitrijewitsch Boborykin (*1836, †1921). Sie beschreiben die Welt der emporstrebenden Kaufmannschaft, der „del’cy“ (Geschäftemacher), der skrupellosen Finanzmanager (!) und der neuen Industriebarone (oder besser gesagt: Industriegötter, denn diese Unternehmer hatten unvergleichlich viel mehr Macht als die westeuropäischen – manche besaßen 40.000 leibeigene Arbeiter, die unter den unsäglichsten Bedingungen für ihren „Barin“ schuften mussten) – sie beschrieben aber auch das Leben der Ausgebeuteten: die Armut, den permanenten Suff, die Brutalität untereinander, Prostitution … und die Hoffnung ...
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