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Fritz Mierau

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Fritz Mierau, geb. 1934 in Breslau, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist, lebt in Berlin. Übersetzung und Herausgabe russischer Literatur und geistesgeschichtlicher Werke wie Russen in Berlin und Die Erweckung des Wortes.




FRITZ MIERAU:

Russische Dichter. Poesie und Person.

Neunzehn Erkundungen.

313 Seiten. 19,00 EUR, ISBN 3856361510

Rezension von Helge Mücke in der Zeitschrift "Die Drei" 5/05

Das ist ein angenehm schlicht gestaltetes Buch – silberner Grund, eine Art Landmarke mit roten Querstreifen vor dem Hintergrund einer schwach aufscheinenden Winterlandschaft, am oberen Rand die Aufzählung der besprochenen Autoren, eher sparsam bebildert, keine forcierte Buntheit, und doch eines der besten Sachbücher, das ich in letzter Zeit kennen lernen durfte: von einem profunden Kenner geschrieben, neunzehn Aufsätze über (hauptsächlich) sechzehn Schriftsteller/innen in sieben Gruppen zu je zwei oder drei Abschnitten, mit treffenden Überschriften und teilweise mit vorangestellten Zitaten, am Schluss sorgfältige Register und Quellennachweise – es wirkt geradezu komponiert, sodass es an formale Musikstücke oder Gedichte erinnert. Neunzehn »Erkundungen« über das »silberne Zeitalter« der russischen Literatur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, von Puschkin bis Pasternak, mit Ausblicken in die Gegenwart und Zukunft – und im Übrigen mit ehrlichen Bemerkungen des Autors über offene Fragen, zu denen weitere Erkundungen nötig sind.

Poesie und Person – so das Versprechen des Untertitels: Tatsächlich gelingt es Fritz Mierau auf feinsinnige Weise, den Verschränkungen - oder Distanzen – von Dichtung und Biografie nachzuspüren. Mit wenigen Sätzen vermag er immer wieder ein lebendiges Bild der Persönlichkeit, der Zeit, eines Werkes vor das innere Auge des Lesers zu stellen. Schon die ersten Sätze führen mitten hinein: »Puschkin ist die erste Liebe der Russen. Von heiterer Art und freier Haltung, entschlossen bis zum Wagemut und in seiner Würde tödlich zu verletzen, hat Puschkin Geist und Gemüt der Russen im Tiefsten angerührt …« 288 Seiten später ist der Leser beim Schlusssatz mit einer Frage angelangt, auf die hin alles geschrieben scheint: »Russland so unterwegs – auf dem Seil oder im Hochgebirge – wo wäre sein Haus?«

Poesie und Person – dem ließen sich weitere Motive hinzufügen: Poesie und Alltag etwa; das immer wiederkehrende Thema Russland selbstverständlich, wie die Zitate schon gezeigt haben; und Poesie und Zeit natürlich oder Person und Zeit; die Beziehung zu anderen Menschen, also Person und Person, wenn man so will; und, ganz auffällig, Person und Raum, Poesie und Raum. Letzteres sei hier als Schlüssel benutzt – der Autor möge mir verzeihen, wenn ich seine höchst kundigen Aufsätze auf ein paar Sätze reduziere. Das ist natürlich nicht als Reduktion gedacht, vielmehr als eine Anregung, sich mit dem Ganzen zu beschäftigen – und vielleicht die angeführten Originaltexte hinzuzuziehen, denn das ist als einziger Wermutstropfen zu nennen: Wohl kaum ein Leser wird eine ähnlich tiefe Kenntnis der russischen Literatur haben, eigentlich würde ein zweiter Band mit den besonders behandelten primären Texten dazu gehören, ohne sie ist ein volles Verstehen nicht möglich.

Puschkin – das Vermächtnis: Die Unruhe, die er bis heute auslöst, begründet sich durch die »verborgene Schwebe, in der er Poesie und Person gehalten hat«. Alexander Puschkin lesen bedeutet, sich für den Vorrang der Poesie oder den Vorrang der Person zu entscheiden. »Beide Arten (der) Lektüre haben die russische Selbsterkenntnis entscheidend beeinflusst. « Beide Lesarten sind ein Kreisen um die verborgene Mitte, in der Poesie und Person eins sein können – und sind von der Sehnsucht nach dieser Mitte bestimmt, bis heute. Aus allen Brüchen, Eingriffen, Verweigerungen, Überwachungen, Gewaltsamkeiten gestärkt hervorgegangen zu sein – das gab »Puschkins Existenz Rang und Würde des Gewöhnlichen« und damit Zielsetzenden. Puschkins Raum ist Russland und die eigene Mitte in ihm. Eine hier wiedergegebene Skizze Puschkins zu seinem Versroman zeigt symbolhaft den Dichter mit seinem Helden Eugen Onegin zusammen am Ufer der Newa. Außerhalb von Russland – in Marienbad – entsteht der Roman »Oblomow« von Iwan Gontscharow, in dem eine Seite der russischen Wesensart – die des gutmütigen Träumers, des Müßiggängers und Genießers – so treffend dargestellt ist, dass sich bis heute dafür der Begriff »Oblomowerei« eingebürgert hat. Gontscharow ist, 45-jährig, mit einem Leberleiden und in tiefer Schwermut 1857 nach Marienbad zur Kur gekommen – und gerät im Zimmer in Bewegung (man kann es sich nach Mieraus Schilderung richtig vorstellen), schreitet rasch in dem kleinen Raum auf und ab, geht hinaus in die Wälder, über die Berge, kehrt nach langen Spaziergängen zurück und schreibt jeweils am Morgen in knapp zwei Monaten »wie nach Diktat« den Roman von rund fünfhundert Seiten nieder. Die Reaktion der Leser ist häufig eine Gegenwehr – mit besonderem Ingrimm haben die russischen Revolutionäre, allen voran Lenin, die »Oblomowerei « bekämpft. Aber das beruht auch (so weist Mierau nach) auf einem Missverständnis: Gontscharow setzt beide Haltungen – die des Aktivisten und die des »Müßiggängers« – gleichwertig zueinander. »Wie Stolz (der Gegenspieler) ein Virtuose seiner Geschäfte, ist Oblomow ein Virtuose des Unverwirklichten …« »Leben und Philosophie des Unverwirklichten « – das sei der rettende Gegenentwurf. »Verfängliche Nähe« – die Zwiegesichtigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, meint das Verhältnis zu Dostojewski, meint in diesem Kapitel vor allem das Verhältnis des Schriftstellers Pawel Florenski zu Dostojewski, meint auch die Antinomie zwischen Fremdheit und verwegen-verlegener Vertraulichkeit, wie sie auch in einem hier wiedergegebenen Gruppenbild von Max Ernst zum Ausdruck kommt (neben vielen anderen porträtierten Surrealisten der Künstler selber auf dem Schoß von Dostojewski). Auf der anderen Seite im Buch ein Bild der Familie Florenski. Person und Raum, Poesie und Raum: In einer autobiografischen Aufzeichnung stellt Florenski einen fiktiven Besuch Dostojewskis im Haus seiner Eltern dar und wirft damit ein Blitzlicht auf das Konfliktpotential der »verfänglichen Nähe« – Dostojewski würde von den Eltern als hysterisch eingestuft werden, zwar freundlich empfangen, aber zur Beruhigung mit Zuckerwasser bewirtet werden. Es gebe aber – so Florenski – Gefühle und Gedanken, Zusammenbrüche und Verstrickungen im Leben, die man nur in Hysterie äußern könne oder gar nicht. Dostojewski sei der Einzige, der es geschafft habe, aufrichtig zu sein bis zum Äußersten, ohne sich schamlos zu entblößen … Florenskij studiert Mathematik und wird Priester. Diese Zwiegesichtigkeit wird ihn zeit seines Lebens beschäftigen. Wie können wir zu einem Umgang mit dem Wissen gelangen (oder zurückkehren), bei dem wir »die unvermeidliche Zersplitterung in … abertausend Einzeldisziplinen « neben der Unbekanntheit, dem Geheimnis des Lebens aushalten? Indem wir »das Antinomische unserer Existenz« anerkennen – das ist Florenskis Antwort: die Antinomie von Wissen und Mysterium, die Antinomie von Nähe und Ferne auch, von kleinem und großem Raum.

»Petersburg« oder das Ende einer Flucht: Wer Andrej Bely beschrieben hat, hat seinen tänzerischen Umgang mit dem Raum beschrieben. Sein Eintritt sei schon ein Ereignis gewesen. Sturmgesang und Maskenspiel: stellt Alexander Bloks Poem »Die Zwölf« in den Mittelpunkt – eine Gruppe von zwölf Rotgardisten zieht an den bürgerlichen Resten der Revolution vorbei, voran Christus mit der Fahne. Ein russischer Cagliostro: Mitten im Taumel der Zeitenwende bringt der welterfahrene Michail Kusmin es fertig, nichts als das einfache Leben zu erzählen.

Cabaret artistique »Der streunende Hund«: beginnt mit der Beschreibung der Kellerräume, in denen der »Hund-Direktor« Boris Pronin (ein Theatermann) das Kabarett eröffnet und sich selber zur Seele des Ganzen macht. Die empfindsame Europäerin: »Anna Achmatowa: Zweimal zu neuem Leben aufgebrochen – vor den Kriegen. Zweimal als die Dichterin Russlands abgewiesen – nach den Kriegen« – sie war eine jener empfindsamen Europäerinnen Petersburgs (Ossip Mandelstam hatte diesen Namen geprägt). »Ausgerechnet in den Maskeraden der Petersburger Vorkriegsboheme soll sie zu finden gewesen sein«, zur Verwunderung ihrer Kollegen. Nichts von Aufruhr, Vergeltung, Auszug aus dem Land. Im »Poem ohne Held« (1940- 1962) beschäftigt sie sich mit den Harlekinen des Jahres 1913. Das ist ihre Maskerade, ihre »stille Freiheit«. Ihr Poem und Pasternaks »Doktor Shiwago« seien »die großen russischen Selbstbehauptungen in den Leiden und Ängsten des Terrors«. Eine leise Poesie, bis zum Flüstern, die ihrem stillen Wesen entspricht, auch inmitten des Getümmels – das ist ihr Freiraum. Noch ein Abschnitt befasst sich mit einer Dichterin – Die Amazone: »Hat sich ein Dichter je so ganz selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa ?«

»Alter Leib geschüttelt von den Stürmen der Fantasie« spricht von dem Lebens- und Schutzraum Odessa und Isaak Babel. »Sehnsuchtsfigur Sergej Jessenin« ist der Grundkonstellation dieses Dichters gewidmet: »Sehnsuchtsfigur zu sein und ständig enttäuschen zu müssen, um Sehnsuchtsfigur zu bleiben«. »Häuslicher Hellenismus« kennzeichnet die Widersprüchlichkeit Ossip Mandelstams, der seine Freunde immer wieder durch den Auseinanderfall von Poesie und Person irritierte. »Der Eurasier« Welimir Chlebnikow hat am radikalsten die verschiedensten Elemente aus Eurasien literarisch zusammengebracht – nach Mandelstams Urteil »ein Bürger aller Geschichte, des gesamten Systems der Sprache und der Poesie«. Für unzählige »Gesichter der Avantgarde« war Sergej Tretjakow das Ferment – und ein unermüdlicher und verwegener Namengeber.

Zwei Abschnitte – »… Welches Jahrtausend haben wir?« und »Ein ganz gewöhnlicher Roman « (bezogen auf »Dr. Shiwago«) – sind Boris Pasternak gewidmet.

Die letzten drei Abschnitte beschäftigen sich mit den russischen Emigranten in Deutschland – mit den Räumen der Unbehaustheit. Das Leben in ihnen kann je nach Region ganz verschieden empfunden werden: »Der Süden ist die Feier. Berlin ist das Leiden. Hamburg ist das Urteil« – so die prägnante Formulierung Mieraus. Die russischen Bücher über Berlin »beklagen … die Vergeblichkeit dieses Berliner russischen Lebens, dieses ›Petersburg am Wittenbergplatz‹«. Vladimir Nabokow – um Beispiele zu nennen – hat einen »Stadtführer Berlin« geschrieben (1925), Viktor Schklowski mit »Zoo oder Briefe nicht über die Liebe« (1923) – das »verzweifeltste Berlin- Buch der Russen«. In Hamburg zu Ende geschrieben ! Hamburg lässt sich beschreiben. »Wo ist mein Haus?« überschreibt Mierau den letzten Abschnitt seines faszinierend lebendigen Buches – und leitet es mit einem wunderbaren Zitat von Florenskij aus einem Brief aus dem Konzentrationslager auf den Solowki-Inseln ein: »Neulich fing man hier eine Möwe, die in Rom beringt worden war. Dorthin fliegen also unsere Solowki-Möwen. « Die einen blieben da nach dem Winter 1919/20 (und kamen ins Gefängnis, ins Lager, in die Anstalt), die anderen gingen fort – beides hatte den Charakter des Unwiderruflichen. Nicht immer war es leicht, zwischen hier und dort – zwischen den beiden Räumen der Russen – Verbindung zu halten. Oft gab es Differenzen und Missverständnisse, die aber letztlich immer hilfreich waren. Nabokovs Attacke gegen Pasternaks »Doktor Shiwago« führt dreißig Jahre später zu einem Urteil, das beide in einem Atemzug zusammenbringt: den bekanntesten und den unbekanntesten russischen Dichter des Jahrhunderts. Andrej Platonow, der Russland nie verlassen hat, eines der Vorbilder Pasternaks, nennt Joseph Brodsky einen »Mount-Everest- Besteiger« mit dem verglichen Nabokov ein »Seiltänzer« sei.

»Russland so unterwegs – auf dem Seil oder im Hochgebirge – wo wäre sein Haus?«




Fritz Mierau

Mein russisches Jahrhundert

Autobiographie

Originalveröffentlichung; Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten, illustriert mit Fotografien und Faksimiles

(D) 19,90 / sFr 35,90 - ISBN 3-89401-386-9


Leseprobe: Der Wind vom Kaukasus … (zu MaximilianVoloschin)

Das war wohl der außerordentlichste Tag, den man hier erleben konnte: der Besuch im Hause Maximilian Woloschins. Phantastisch wie der Dichter. Zweimal umsonst versucht und zweimal falsch angesetzt, weil ich den besten Verbindungsweg nicht kannte, glückte die Sache das dritte Mal: Ich hatte genügend lange gewartet. Das Warten wird gleich noch eine Rolle spielen. Es begann damit, daß ich mich um halb sechs wecken ließ. Wach war ich schon um viertel und als das Telefon klingelte, ging ich rasiert und aufgeladen, mit Fotoapparat, einem Weißbrotrest, meinem blauen Campingschlafanzug (für alle Fälle) in Richtung Hafen. Kurz vor sechs war ich dort. Eine lange Schlange schon und Gerüchte, daß die Karten nach Sudak, wohin ich mußte, schon ausverkauft seien. Große Aufregung. Man verweist auf ein Schiff um zehn Uhr. Aber man wartet weiter. Verkauft wird nichts. Tausend Vermutungen. Tausend Annahmen, tausend Widerrufe. Endlos die Diskussion. Plötzlich wird verkauft und es stellt sich heraus, daß das halbe Schiff leer bleibt. Die Sache geht los. Zwei Stunden Fahrt. Ganz schnell. So lange brauchte ich gestern für ein Drittel des Weges – nach Aluschta. Ich komme an. Sudak begrüßt einen mit seiner Festung, uraltes Bauwerk auf hohem Berg. Phantastisch anzusehen, aber einer Eingebung folgend stieg ich nicht da hinauf, obwohl es so schien, als sei viel Zeit. Dafür schloß ich mich einem Jungen an, der wie ein Wilder das Ufer hinanstürmte und immerfort rief: »Das schaffe ich, das schaffe ich!« Ich fragte spontan: »Wohin?« »Nach Koktebel!« Ich also mit. [...]

Es war nicht weit bis zum Haus. Es steht direkt am Meer. Rundherum ein großer Park, den die Mutter von Woloschin angelegt hat und von wo das Grün in Koktebel ausging, das jetzt überall zu treffen ist. Ich komme in den Park. Irgendwo Klavierspiel. Auf einer Bank sitzt (wiedermal) ein junges Mädchen, auch Pionierin! Ich frage sie, wie die Dinge stehen. Ja, Maria Stepanowna ruht bis halb elf, dann frühstückt sie und empfängt. [...]

Wir stiegen dann ins nördlich gelegene Sommerzimmer Woloschins. Überall Bücher: eine Spezialbibliothek für Religionsgeschichte, eine ganze Bibliothek zur Poesie und Prosa Frankreichs um die Jahrhundertwende. Ganz oben ein Plateau, wo sich die Leute nachts versammelten und, die Sterne beobachtend – Woloschin war auch ein Sternkundiger, Astronom, seriöser gesagt – Gedichte vortrugen. In diesem Haus, das viele Zimmer hat, ich war in fünf, aber es gibt noch weitere fünf, wohnten bis zu sechzig Besucher – Gäste Woloschins. Maria Stepanowna war völlig gerührt, daß einer aus dem fernen Deutschland kam und sie und Woloschins Haus kannte und aufgesucht hat. Sie fragte mich unbarmherzig aus, nach Deutschland und nach meinen russischen Eindrücken, nach meinen russischen Freunden. Fragte, ob man mich je beleidigt habe in Rußland. Von den Russen sagte sie: Sie sind gütiger als die Deutschen. Aber grausamer. Dostojewski. Den ich übrigens nicht nur hier und nicht nur so ausdrücklich bestätigt fand. Zum Schluß gab es Tee. Ich trank drei Tassen – herrlichen Tee. Dann ging es los ...

[aus einem Brief vom 25. Juli 1965]




OrdnerAutoren OrdnerRussland


Fritz Mierau, geb. 1934 in Breslau, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist, lebt in Berlin. Übersetzung und Herausgabe russischer Literatur und geistesgeschichtlicher Werke wie Russen in Berlin und Die Erweckung des Wortes.


FRITZ MIERAU:
Russische Dichter. Poesie und Person.
Neunzehn Erkundungen.
313 Seiten. 19,00 EUR, ISBN 3856361510

Rezension von Helge Mücke in der Zeitschrift "Die Drei" 5/05

Das ist ein angenehm schlicht gestaltetes Buch – silberner Grund, eine Art Landmarke mit roten Querstreifen vor dem Hintergrund einer schwach aufscheinenden Winterlandschaft, am oberen Rand die Aufzählung der besprochenen Autoren, eher sparsam bebildert, keine forcierte Buntheit, und doch eines der besten Sachbücher, das ich in letzter Zeit kennen lernen durfte: von einem profunden Kenner geschrieben, neunzehn Aufsätze über (hauptsächlich) sechzehn Schriftsteller/innen in sieben Gruppen zu je zwei oder drei Abschnitten, mit treffenden Überschriften und teilweise mit vorangestellten Zitaten, am Schluss sorgfältige Register und Quellennachweise – es wirkt geradezu komponiert, sodass es an formale Musikstücke oder Gedichte erinnert. Neunzehn »Erkundungen« über das »silberne Zeitalter« der russischen Literatur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, von Puschkin bis Pasternak, mit Ausblicken in die Gegenwart und Zukunft – und im Übrigen mit ehrlichen Bemerkungen des Autors über offene Fragen, zu denen weitere Erkundungen nötig sind.

Poesie und Person – so das Versprechen des Untertitels: Tatsächlich gelingt es Fritz Mierau auf feinsinnige Weise, den Verschränkungen - oder Distanzen – von Dichtung und Biografie nachzuspüren. Mit wenigen Sätzen vermag er immer wieder ein lebendiges Bild der Persönlichkeit, der Zeit, eines Werkes vor das innere Auge des Lesers zu stellen. Schon die ersten Sätze führen mitten hinein: »Puschkin ist die erste Liebe der Russen. Von heiterer Art und freier Haltung, entschlossen bis zum Wagemut und in seiner Würde tödlich zu verletzen, hat Puschkin Geist und Gemüt der Russen im Tiefsten angerührt …« 288 Seiten später ist der Leser beim Schlusssatz mit einer Frage angelangt, auf die hin alles geschrieben scheint: »Russland so unterwegs – auf dem Seil oder im Hochgebirge – wo wäre sein Haus?«

Poesie und Person – dem ließen sich weitere Motive hinzufügen: Poesie und Alltag etwa; das immer wiederkehrende Thema Russland selbstverständlich, wie die Zitate schon gezeigt haben; und Poesie und Zeit natürlich oder Person und Zeit; die Beziehung zu anderen Menschen, also Person und Person, wenn man so will; und, ganz auffällig, Person und Raum, Poesie und Raum. Letzteres sei hier als Schlüssel benutzt – der Autor möge mir verzeihen, wenn ich seine höchst kundigen Aufsätze auf ein paar Sätze reduziere. Das ist natürlich nicht als Reduktion gedacht, vielmehr als eine Anregung, sich mit dem Ganzen zu beschäftigen – und vielleicht die angeführten Originaltexte hinzuzuziehen, denn das ist als einziger Wermutstropfen zu nennen: Wohl kaum ein Leser wird eine ähnlich tiefe Kenntnis der russischen Literatur haben, eigentlich würde ein zweiter Band mit den besonders behandelten primären Texten dazu gehören, ohne sie ist ein volles Verstehen nicht möglich.

Puschkin – das Vermächtnis: Die Unruhe, die er bis heute auslöst, begründet sich durch die »verborgene Schwebe, in der er Poesie und Person gehalten hat«. Alexander Puschkin lesen bedeutet, sich für den Vorrang der Poesie oder den Vorrang der Person zu entscheiden. »Beide Arten (der) Lektüre haben die russische Selbsterkenntnis entscheidend beeinflusst. « Beide Lesarten sind ein Kreisen um die verborgene Mitte, in der Poesie und Person eins sein können – und sind von der Sehnsucht nach dieser Mitte bestimmt, bis heute. Aus allen Brüchen, Eingriffen, Verweigerungen, Überwachungen, Gewaltsamkeiten gestärkt hervorgegangen zu sein – das gab »Puschkins Existenz Rang und Würde des Gewöhnlichen« und damit Zielsetzenden. Puschkins Raum ist Russland und die eigene Mitte in ihm. Eine hier wiedergegebene Skizze Puschkins zu seinem Versroman zeigt symbolhaft den Dichter mit seinem Helden Eugen Onegin zusammen am Ufer der Newa. Außerhalb von Russland – in Marienbad – entsteht der Roman »Oblomow« von Iwan Gontscharow, in dem eine Seite der russischen Wesensart – die des gutmütigen Träumers, des Müßiggängers und Genießers – so treffend dargestellt ist, dass sich bis heute dafür der Begriff »Oblomowerei« eingebürgert hat. Gontscharow ist, 45-jährig, mit einem Leberleiden und in tiefer Schwermut 1857 nach Marienbad zur Kur gekommen – und gerät im Zimmer in Bewegung (man kann es sich nach Mieraus Schilderung richtig vorstellen), schreitet rasch in dem kleinen Raum auf und ab, geht hinaus in die Wälder, über die Berge, kehrt nach langen Spaziergängen zurück und schreibt jeweils am Morgen in knapp zwei Monaten »wie nach Diktat« den Roman von rund fünfhundert Seiten nieder. Die Reaktion der Leser ist häufig eine Gegenwehr – mit besonderem Ingrimm haben die russischen Revolutionäre, allen voran Lenin, die »Oblomowerei « bekämpft. Aber das beruht auch (so weist Mierau nach) auf einem Missverständnis: Gontscharow setzt beide Haltungen – die des Aktivisten und die des »Müßiggängers« – gleichwertig zueinander. »Wie Stolz (der Gegenspieler) ein Virtuose seiner Geschäfte, ist Oblomow ein Virtuose des Unverwirklichten …« »Leben und Philosophie des Unverwirklichten « – das sei der rettende Gegenentwurf. »Verfängliche Nähe« – die Zwiegesichtigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, meint das Verhältnis zu Dostojewski, meint in diesem Kapitel vor allem das Verhältnis des Schriftstellers Pawel Florenski zu Dostojewski, meint auch die Antinomie zwischen Fremdheit und verwegen-verlegener Vertraulichkeit, wie sie auch in einem hier wiedergegebenen Gruppenbild von Max Ernst zum Ausdruck kommt (neben vielen anderen porträtierten Surrealisten der Künstler selber auf dem Schoß von Dostojewski). Auf der anderen Seite im Buch ein Bild der Familie Florenski. Person und Raum, Poesie und Raum: In einer autobiografischen Aufzeichnung stellt Florenski einen fiktiven Besuch Dostojewskis im Haus seiner Eltern dar und wirft damit ein Blitzlicht auf das Konfliktpotential der »verfänglichen Nähe« – Dostojewski würde von den Eltern als hysterisch eingestuft werden, zwar freundlich empfangen, aber zur Beruhigung mit Zuckerwasser bewirtet werden. Es gebe aber – so Florenski – Gefühle und Gedanken, Zusammenbrüche und Verstrickungen im Leben, die man nur in Hysterie äußern könne oder gar nicht. Dostojewski sei der Einzige, der es geschafft habe, aufrichtig zu sein bis zum Äußersten, ohne sich schamlos zu entblößen … Florenskij studiert Mathematik und wird Priester. Diese Zwiegesichtigkeit wird ihn zeit seines Lebens beschäftigen. Wie können wir zu einem Umgang mit dem Wissen gelangen (oder zurückkehren), bei dem wir »die unvermeidliche Zersplitterung in … abertausend Einzeldisziplinen « neben der Unbekanntheit, dem Geheimnis des Lebens aushalten? Indem wir »das Antinomische unserer Existenz« anerkennen – das ist Florenskis Antwort: die Antinomie von Wissen und Mysterium, die Antinomie von Nähe und Ferne auch, von kleinem und großem Raum.

»Petersburg« oder das Ende einer Flucht: Wer Andrej Bely beschrieben hat, hat seinen tänzerischen Umgang mit dem Raum beschrieben. Sein Eintritt sei schon ein Ereignis gewesen. Sturmgesang und Maskenspiel: stellt Alexander Bloks Poem »Die Zwölf« in den Mittelpunkt – eine Gruppe von zwölf Rotgardisten zieht an den bürgerlichen Resten der Revolution vorbei, voran Christus mit der Fahne. Ein russischer Cagliostro: Mitten im Taumel der Zeitenwende bringt der welterfahrene Michail Kusmin es fertig, nichts als das einfache Leben zu erzählen.

Cabaret artistique »Der streunende Hund«: beginnt mit der Beschreibung der Kellerräume, in denen der »Hund-Direktor« Boris Pronin (ein Theatermann) das Kabarett eröffnet und sich selber zur Seele des Ganzen macht. Die empfindsame Europäerin: »Anna Achmatowa: Zweimal zu neuem Leben aufgebrochen – vor den Kriegen. Zweimal als die Dichterin Russlands abgewiesen – nach den Kriegen« – sie war eine jener empfindsamen Europäerinnen Petersburgs (Ossip Mandelstam hatte diesen Namen geprägt). »Ausgerechnet in den Maskeraden der Petersburger Vorkriegsboheme soll sie zu finden gewesen sein«, zur Verwunderung ihrer Kollegen. Nichts von Aufruhr, Vergeltung, Auszug aus dem Land. Im »Poem ohne Held« (1940- 1962) beschäftigt sie sich mit den Harlekinen des Jahres 1913. Das ist ihre Maskerade, ihre »stille Freiheit«. Ihr Poem und Pasternaks »Doktor Shiwago« seien »die großen russischen Selbstbehauptungen in den Leiden und Ängsten des Terrors«. Eine leise Poesie, bis zum Flüstern, die ihrem stillen Wesen entspricht, auch inmitten des Getümmels – das ist ihr Freiraum. Noch ein Abschnitt befasst sich mit einer Dichterin – Die Amazone: »Hat sich ein Dichter je so ganz selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa ?«

»Alter Leib geschüttelt von den Stürmen der Fantasie« spricht von dem Lebens- und Schutzraum Odessa und Isaak Babel. »Sehnsuchtsfigur Sergej Jessenin« ist der Grundkonstellation dieses Dichters gewidmet: »Sehnsuchtsfigur zu sein und ständig enttäuschen zu müssen, um Sehnsuchtsfigur zu bleiben«. »Häuslicher Hellenismus« kennzeichnet die Widersprüchlichkeit Ossip Mandelstams, der seine Freunde immer wieder durch den Auseinanderfall von Poesie und Person irritierte. »Der Eurasier« Welimir Chlebnikow hat am radikalsten die verschiedensten Elemente aus Eurasien literarisch zusammengebracht – nach Mandelstams Urteil »ein Bürger aller Geschichte, des gesamten Systems der Sprache und der Poesie«. Für unzählige »Gesichter der Avantgarde« war Sergej Tretjakow das Ferment – und ein unermüdlicher und verwegener Namengeber.

Zwei Abschnitte – »… Welches Jahrtausend haben wir?« und »Ein ganz gewöhnlicher Roman « (bezogen auf »Dr. Shiwago«) – sind Boris Pasternak gewidmet.

Die letzten drei Abschnitte beschäftigen sich mit den russischen Emigranten in Deutschland – mit den Räumen der Unbehaustheit. Das Leben in ihnen kann je nach Region ganz verschieden empfunden werden: »Der Süden ist die Feier. Berlin ist das Leiden. Hamburg ist das Urteil« – so die prägnante Formulierung Mieraus. Die russischen Bücher über Berlin »beklagen … die Vergeblichkeit dieses Berliner russischen Lebens, dieses ›Petersburg am Wittenbergplatz‹«. Vladimir Nabokow – um Beispiele zu nennen – hat einen »Stadtführer Berlin« geschrieben (1925), Viktor Schklowski mit »Zoo oder Briefe nicht über die Liebe« (1923) – das »verzweifeltste Berlin- Buch der Russen«. In Hamburg zu Ende geschrieben ! Hamburg lässt sich beschreiben. »Wo ist mein Haus?« überschreibt Mierau den letzten Abschnitt seines faszinierend lebendigen Buches – und leitet es mit einem wunderbaren Zitat von Florenskij aus einem Brief aus dem Konzentrationslager auf den Solowki-Inseln ein: »Neulich fing man hier eine Möwe, die in Rom beringt worden war. Dorthin fliegen also unsere Solowki-Möwen. « Die einen blieben da nach dem Winter 1919/20 (und kamen ins Gefängnis, ins Lager, in die Anstalt), die anderen gingen fort – beides hatte den Charakter des Unwiderruflichen. Nicht immer war es leicht, zwischen hier und dort – zwischen den beiden Räumen der Russen – Verbindung zu halten. Oft gab es Differenzen und Missverständnisse, die aber letztlich immer hilfreich waren. Nabokovs Attacke gegen Pasternaks »Doktor Shiwago« führt dreißig Jahre später zu einem Urteil, das beide in einem Atemzug zusammenbringt: den bekanntesten und den unbekanntesten russischen Dichter des Jahrhunderts. Andrej Platonow, der Russland nie verlassen hat, eines der Vorbilder Pasternaks, nennt Joseph Brodsky einen »Mount-Everest- Besteiger« mit dem verglichen Nabokov ein »Seiltänzer« sei.

»Russland so unterwegs – auf dem Seil oder im Hochgebirge – wo wäre sein Haus?«


Fritz Mierau
Mein russisches Jahrhundert
Autobiographie
Originalveröffentlichung; Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten, illustriert mit Fotografien und Faksimiles
(D) 19,90 / sFr 35,90 - ISBN 3-89401-386-9

Leseprobe: Der Wind vom Kaukasus … (zu MaximilianVoloschin)

Das war wohl der außerordentlichste Tag, den man hier erleben konnte: der Besuch im Hause Maximilian Woloschins. Phantastisch wie der Dichter. Zweimal umsonst versucht und zweimal falsch angesetzt, weil ich den besten Verbindungsweg nicht kannte, glückte die Sache das dritte Mal: Ich hatte genügend lange gewartet. Das Warten wird gleich noch eine Rolle spielen. Es begann damit, daß ich mich um halb sechs wecken ließ. Wach war ich schon um viertel und als das Telefon klingelte, ging ich rasiert und aufgeladen, mit Fotoapparat, einem Weißbrotrest, meinem blauen Campingschlafanzug (für alle Fälle) in Richtung Hafen. Kurz vor sechs war ich dort. Eine lange Schlange schon und Gerüchte, daß die Karten nach Sudak, wohin ich mußte, schon ausverkauft seien. Große Aufregung. Man verweist auf ein Schiff um zehn Uhr. Aber man wartet weiter. Verkauft wird nichts. Tausend Vermutungen. Tausend Annahmen, tausend Widerrufe. Endlos die Diskussion. Plötzlich wird verkauft und es stellt sich heraus, daß das halbe Schiff leer bleibt. Die Sache geht los. Zwei Stunden Fahrt. Ganz schnell. So lange brauchte ich gestern für ein Drittel des Weges – nach Aluschta. Ich komme an. Sudak begrüßt einen mit seiner Festung, uraltes Bauwerk auf hohem Berg. Phantastisch anzusehen, aber einer Eingebung folgend stieg ich nicht da hinauf, obwohl es so schien, als sei viel Zeit. Dafür schloß ich mich einem Jungen an, der wie ein Wilder das Ufer hinanstürmte und immerfort rief: »Das schaffe ich, das schaffe ich!« Ich fragte spontan: »Wohin?« »Nach Koktebel!« Ich also mit. [...]

Es war nicht weit bis zum Haus. Es steht direkt am Meer. Rundherum ein großer Park, den die Mutter von Woloschin angelegt hat und von wo das Grün in Koktebel ausging, das jetzt überall zu treffen ist. Ich komme in den Park. Irgendwo Klavierspiel. Auf einer Bank sitzt (wiedermal) ein junges Mädchen, auch Pionierin! Ich frage sie, wie die Dinge stehen. Ja, Maria Stepanowna ruht bis halb elf, dann frühstückt sie und empfängt. [...]

Wir stiegen dann ins nördlich gelegene Sommerzimmer Woloschins. Überall Bücher: eine Spezialbibliothek für Religionsgeschichte, eine ganze Bibliothek zur Poesie und Prosa Frankreichs um die Jahrhundertwende. Ganz oben ein Plateau, wo sich die Leute nachts versammelten und, die Sterne beobachtend – Woloschin war auch ein Sternkundiger, Astronom, seriöser gesagt – Gedichte vortrugen. In diesem Haus, das viele Zimmer hat, ich war in fünf, aber es gibt noch weitere fünf, wohnten bis zu sechzig Besucher – Gäste Woloschins. Maria Stepanowna war völlig gerührt, daß einer aus dem fernen Deutschland kam und sie und Woloschins Haus kannte und aufgesucht hat. Sie fragte mich unbarmherzig aus, nach Deutschland und nach meinen russischen Eindrücken, nach meinen russischen Freunden. Fragte, ob man mich je beleidigt habe in Rußland. Von den Russen sagte sie: Sie sind gütiger als die Deutschen. Aber grausamer. Dostojewski. Den ich übrigens nicht nur hier und nicht nur so ausdrücklich bestätigt fand. Zum Schluß gab es Tee. Ich trank drei Tassen – herrlichen Tee. Dann ging es los ...

[aus einem Brief vom 25. Juli 1965]


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