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Rudolf Geiger

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Rudolf Geiger als Märchenbetrachter

Der Herr der Winde

Ein Märchen der Nenzen

Aus:

Rudolf Geiger

Märchen der Völker - in Ost, West, Nord, Süd

1992, Urachhaus-Verlag

(vergriffen, nur noch antiquarisch erhältlich)


Das Märchen

In einer Lagerstätte lebte einmal ein alter Mann. Der hatte drei Töchter. Und die Jüngste war die Klügste und Schönste von ihnen.
Der alte Mann war sehr arm. Sein Filzzelt hatte mehr Löcher als Filz. Der Mann und seine Töchter besaßen keine warmen Kleider, und im Winter, wenn es sehr kalt war, saßen sie am Feuer und wärmten sich. Nachts machten sie das Feuer aus und legten sich schlafen, dann froren sie bis zum Morgen.
Doch einmal, in des Winters Mitte war's, brach in der Tundra ein furchtbarer Schneesturm los. Er blies einen Tag, zwei Tage, drei Tage, und es sah aus, als wolle er das dürftige Filzzelt fortblasen. Niemand konnte hinausgehen, und so saßen denn der Mann und seine drei Töchter hungernd im Zelt und horchten, wie der Sturm heulte. Der Alte sprach:
»Der Sturm wird nie aufhören. Kotura, der Herr der Winde, hat ihn geschickt. Sicher zürnt er uns, denn er will, daß wir ihm eine gute Frau schicken. Gehe zu ihm hin, meine älteste Tochter, sonst muß unser ganzes Volk dran glauben. Geh hin und bitte ihn recht innig, er soll sein Brausen einstellen.«
»Wie soll ich zu ihm gehen?« sagte das Mädchen. »Ich weiß doch nicht den Weg.«
»Ich gebe dir einen kleinen Schlitten. Schiebe ihn gegen den Wind, und er wird dich führen. Der Sturm wird an deinen Kleidern die Bündchen lösen, achte nicht darauf und binde sie nicht zu. Der Schnee wird dir in die Stiefel dringen, schüttele ihn nicht heraus, gehe weiter. Auf deinem Weg wird ein hoher Berg stehen, steige hinauf. Dort darfst du stehenbleiben, den Schnee aus den Stiefeln schütteln und die Bündchen an deinen Kleidern zubinden. Auf dem Berg wird ein kleines Vöglein zu dir fliegen. Scheuche es nicht fort, sei gut und lieb zu ihm. Setz dich sodann auf den Schlitten und fahre bergab. So wirst du geradewegs zum Eingang von Koturas Filzzelt kommen. Tritt ein, doch rühre nichts an, sitz ruhig da. Und wenn Kotura kommt, tu alles, was er dir befiehlt.«
Die älteste Tochter kleidete sich an, nahm den Schlitten und begann ihn gegen den Wind zu schieben.
Sie war noch nicht lange gegangen, da lösten sich die Bündchen an ihren Kleidern, und sie fror sehr. Doch das Mädchen mißachtete ihres Vaters Geheiß und knüpfte sie zu. Der Schnee drang ihr in die Stiefel, sie blieb stehen und schüttelte ihn heraus. Dann ging sie weiter, immer gegen den Wind. Lange schob sie den Schlitten. Sie sah einen Berg und stieg hinauf. Ein Vöglein kam geflogen und wollte sich auf ihre Schulter setzen. Doch sie scheuchte es mit den Händen fort. Das Vöglein flatterte herum, dann flog es fort. Die Tochter des alten Mannes setzte sich auf den Schlitten und rodelte den Berg hinab. Vor einem großen Filzzelt blieb der Schlitten stehen.
Das Mädchen trat ein. Und wie sie sich umschaute, sah sie in dem Zelt gebratenes Rentierfleisch liegen. Da schürte sie das Feuer an, und als sie sich gewärmt hatte, begann sie das Fett von dem Fleisch zu reißen. Sie riß ein Stück ab und steckte es in den Mund, riß ein zweites ab, steckte es auch in den Mund. Sie aß eine Menge. Plötzlich hörte sie, daß jemand kam. Das Fell am Eingang hob sich, und ein junger Riese trat ein. Das war Kotura. Er blickte das Mädchen an und fragte:
»Woher kommst du, was willst du hier?«
»Mein Vater hat mich zu dir geschickt.«
»Was will er?«
»Daß du mich zur Frau nimmst.«
»Stell dich hin und koch das Fleisch, das ich von der Jagd gebracht habe.«
Das Mädchen kochte das Fleisch.
Kotura hieß sie, das gekochte Fleisch aus dem Kessel nehmen und teilen.
»Die eine Hälfte werden wir essen«, sagte er, »die andre leg in eine Schüssel und bring sie in das Zelt nebenan. Doch tritt nicht ein, sondern bleib am Eingang stehen. Eine alte Frau wird zu dir kommen. Gib ihr das Fleisch und warte draußen, bis sie dir die Schüssel wiedergibt.«
Das Mädchen nahm das Fleisch und ging. Der Sturm sauste, der Schnee fiel ihr ins Gesicht, nichts war zu sehen. Wie sollte man bei solchem Schneetreiben den Weg finden? Das Mädchen ging also ein Stückchen von dem Zelt weg. Dann blieb sie stehen, überlegte und warf kurzentschlossen das Fleisch in den Schnee. Mit leerer Schüssel kam sie zu Kotura.
Der sah sie an und fragte:
»Hast du das Fleisch hingebracht?«
»Ja, ich hab's hingebracht.«
»Zeig mal die Schüssel, will sehen, was man dir dafür gegeben hat.«
Das Mädchen zeigte die leere Schüssel. Kotura sagte nichts. Er aß und legte sich schlafen.
Am Morgen stand er auf, brachte ein paar rohe Rentierhäute und sprach:
»Ich gehe auf die Jagd, walk doch bitte die Häute derweil und näh mir ein neues Gewand, Fäustlinge und Fellstiefel daraus. Wenn ich heimkomme, schau ich mir an, ob du geschickt zu derlei Sachen bist.«
Und Kotura ging in die Tundra. Die Tochter des alten Mannes aber machte sich an die Arbeit. Plötzlich ging das Fell am Eingang in die Höh', und eine grauhaarige alte Frau trat ins Zelt.
»Liebes Mädchen«, sagte sie. »Mir ist ein Stäubchen ins Auge geflogen. Hilf mir, es herauszuziehen.«
»Stör mich nicht, ich muß nähen«, sagte das Mädchen. »Hab' keine Zeit.«
Die Alte drehte sich wortlos um und verschwand. Die Tochter des alten Mannes blieb allein im Zelt. Sie walkte die Häute, schnitt sie mit dem Messer zu und beeilte sich, die Kleider für Kotura fertigzumachen. Dabei hastete sie und nähte schlecht und recht. Und wie sollte sie auch an einem Tag alles gut und ordentlich machen? Zumal es an den nötigen Zutaten fehlte.
Abends kam Kotura und fragte:
»Sind meine Kleider fertig?«
»Ja, hier sind sie.«
Kotura besah die Kleider. Die Häute waren hart und schlecht gewalkt, die Nähte krumm und liederlich geheftet, die Größe stimmte nicht. Da ward Kotura zornig und warf des alten Mannes Tochter aus seinem Zelt.
Und er warf sie in so weitem Bogen, daß sie in eine Schneewehe fiel. Dort ist sie erfroren.
Der Schneesturm aber nahm immer noch zu.
Der Alte saß in seinem zugigen Zelt und horchte, wie draußen der Wind heulte, Tag und Nacht. Er sprach:
»Meine ältere Tochter hat nicht auf mich gehört und anders getan, als ich ihr sagte. Deshalb bläst der Schneesturm immer noch. Kotura zürnt. Geh jetzt du zu ihm, meine mittlere Tochter!«
Und der Alte zimmerte für sie einen kleinen Schlitten, schärfte der mittleren ebenso wie der älteren Tochter ein, wie sie sich verhalten müsse, und schickte sie zu Kotura. Er selber aber blieb mit der jüngsten Tochter im Zelt und wartete, daß der Schneesturm zu toben aufhöre.
Und es schob die mittlere Tochter den Schlitten gegen den Wind. Die Bündchen an ihrer Kleidung gingen auf, in die Schuhe drang Schnee, sie fror sehr. Da mißachtete sie ihres Vaters Geheiß, schüttelte vor der Zeit den Schnee aus den Stiefeln, band vor der Zeit die Bündchen zu.
Auf dem Berg sah sie das Vöglein. Doch sie schwenkte die Arme und scheuchte es fort. Setzte sich auf den Schlitten und fuhr bergab, geradewegs zu dem Zelt Koturas.
In das Zelt trat sie ein, schürte das Feuer, sättigte sich am Rentierfleisch und wartete dann.
Kotura kam von der Jagd, sah das Mädchen und fragte:
»Was willst du hier?«
»Mein Vater schickte mich zu dir.«
»Wozu?«
»Daß ich deine Frau werde.«
»Und da sitzt du untätig herum? Koch rasch das Fleisch.«
Als das Fleisch weich war, befahl Kotura dem Mädchen, es aus dem Kessel zu nehmen und zu teilen.
»Die eine Hälfte werden wir essen«, sagte er, »die andere leg in eine Schüssel und bring sie in das Zelt nebenan. Tritt nicht ein, sondern warte draußen, bis man dir die Schüssel wiedergibt.«
Das Mädchen nahm das Fleisch und ging los. Der Sturm heulte, der Schnee wirbelte, man sah nicht die Hand vor den Augen . . . Das Mädchen hatte keine Lust weiterzugehen. Sie warf das Fleisch in den Schnee, stand ein Weilchen da und ging dann in Koturas Zelt zurück.
»Hast du's weggebracht?« fragte der.
»Ja, hab' ich«, sagte das Mädchen.
»Bist aber recht bald zurückgekehrt. Zeig doch mal die Schüssel her, was hast du dafür bekommen?«
Kotura blickte nur auf die leere Schüssel und sprach kein Wort. Er legte sich schlafen. Am andern Morgen brachte er rohe Rentierhäute in das Zelt und befahl dem Mädchen ebenso wie ihrer Schwester, ihm bis zum Abend neue Kleider zu nähen.
»Nähe sie mir. Will sehen, ob du zur Arbeit gewandt bist.«
Kotura ging auf die Jagd, und das Mädchen machte sich an die Arbeit. Sie beeilte sich sehr, damit sie bis zum Abend fertig würde. Plötzlich trat eine greise Frau in das Zelt.
»Liebes Mädchen«, sagte sie. »Mir ist ein Stäubchen ins Auge gekommen. Hilf mir bitte, es herauszuziehen.«
»Ich hab' keine Zeit, mich mit dir abzugeben, hab' auch so alle Hände voll zu tun. Scher dich weg und stör mich nicht.«
Die Alte ging wortlos davon. Spätabends kam Kotura von der Jagd.
»Sind meine neuen Kleider fertig?« fragte er.
»Ja, sie sind fertig.«
»Ich will sie probieren.«
Er zog sie an, doch sie waren schlecht und nachlässig genäht und paßten gar nicht. Voll Unwillen nahm Kotura des alten Mannes Tochter und warf sie in dieselbe Schneewehe wie ihre ältere Schwester. Dort ist sie erfroren.
Der Alte saß indessen mit seiner jüngsten Tochter frierend im Zelt und wartete voll Ungeduld auf besseres Wetter. Immer wieder heulte der Sturm, das Zelt bog sich und drohte einzustürzen.
»Meine Töchter haben nicht auf mich gehört«, klagte der Alte. »Sie haben die Sache noch verschlimmert, denn Kotura scheint sehr zornig zu sein. Du bist meine letzte Tochter, ich werde auch dich zu Kotura schicken. Tue ich das nicht, muß unser ganzes Volk verhungern. Also mach dich fertig und geh.«
Und der Alte schärfte seiner letzten Tochter ein, was sie machen müsse.
Das Mädchen trat aus dem Zelt, stellte sich hinter den Schlitten und stemmte ihn gegen den Wind. Der Sturm tobte und brüllte, warf ihr Schnee in die Augen, sie sah nichts und konnte sich kaum auf den Füßen halten.
Und nun geht das Mädchen durch den Sturm, dabei denkt sie an jedes Wort ihres Vaters und macht alles genau so, wie er es befahl. Sie bindet die Bündchen an ihrem Kleid nicht zu, als sie sich lösen, schüttelt den Schnee nicht aus den Stiefeln. Kalt ist ihr, und mühsam ist es, gegen den Wind zu gehen, doch sie bleibt nicht stehen. Als sie einen Berg auf ihrem Weg sah, stieg sie hinauf. Erst oben knüpfte sie die Bündchen fest und schüttelte den Schnee aus den Stiefeln. Da kam ein Vogel und setzte sich auf ihre Schulter. Sie verscheuchte ihn nicht, sondern streichelte ihn übers Gefieder. Der Vogel flog weg. Das Mädchen setzte sich auf den Schlitten und rodelte bergab, geradewegs zu Koturas Filzzelt.
In das Zelt trat sie und wartete geduldig. Auf einmal wurde der Vorhang am Eingang aufgehoben, und herein trat ein junger Riese. Er sah das Mächen und fragte lachend:
»Was willst du hier?«
»Mich schickte mein Vater. Er bittet dich sehr, daß du den Schneesturm aufhören läßt. Sonst sterben alle Menschen in unserer Lagerstätte.«
»Dann schüre das Feuer und koche das Fleisch. Ich bin hungrig, und auch du hast, wie ich sehe, seit du hier bist, noch nichts gegessen.«
Das Mädchen kochte rasch das Fleisch, nahm es aus dem Kessel und gab es Kotura zu essen. Er aß und trug ihr auf, die andre Hälfte in das Zelt nebenan zu bringen.
Das Mädchen nahm die Schüssel mit Fleisch und ging hinaus. Der Sturm tobte, und der Schnee wirbelte immer wilder. Wo sollte sie hingehen? Wie in dem Schneetreiben das fremde Zelt finden? Sie stand ein Weilchen da und überlegte, dann ging sie los.
Wohin sie ging, wußte sie selber nicht ... Auf einmal sah sie den kleinen Vogel, den sie auf dem Berg gestreichelt hatte. Er flog dicht neben ihrem Gesicht und wies ihr den Weg. Sie schritt lange dem Vogel nach, mit einemmal sah sie abseits im wirbelnden Schnee etwas funkeln. Schon freute sie sich, denn sie glaubte, sie wäre am Ziel und ging darauf zu. Doch es war nicht das Zelt, nur ein Erdhügel, aus dem stieg Rauch. Das Mädchen umschritt ihn und scharrte mit dem Fuß, da ward ein Eingang sichtbar. Heraus schaute eine alte weißhaarige Frau, die fragte:
»Wer bist du, was willst du hier?«
»Großmütterchen, ich bringe Euch Fleisch von Kotura.«
»Von Kotura? Nun, gib's her. Und warte draußen.«
Das Mädchen stand bei dem Erdhügel und wartete lange. Endlich zeigte sich die Alte im Durchschlupf und gab ihr die Schüssel wieder. In der Schüssel lag etwas. Das Mädchen machte sich auf den Rückweg.
»Du bist ja so lange fort gewesen?« sagte Kotura. »Hast du das Zelt gefunden?«
»Ja.«
»Und hast das Fleisch abgegeben?«
»Freilich.«
»Gib die Schüssel her, will sehen, was drin ist.«
Kotura schaute in die Schüssel, darin aber lagen Messer, Schaber und Krempel, um die Felle weichzuwalken, nebst stählernen Nadeln. Da lachte Kotura:
»Man hat dir viel nützliches Gerät gegeben, das wird dir gut zustatten kommen.«
Am Morgen brachte Kotura rohe Rentierhäute in das Zelt und befahl dem Mädchen, ihm bis zum Abend ein neues Gewand, Fäustlinge und Fellstiefel zu nähen.
»Wenn du es hübsch und gut machst, wirst du meine Frau!«
Und er ging fort. Das Mädchen aber machte sich an die Arbeit. ja, da kamen ihr wirklich die Geschenke der Alten zustatten! Doch wie viel kann man an einem einzigen Tag machen? Das Mädchen dachte darüber nicht lange nach, sondern rührte lieber fleißig die Hände: sie walkte und schabte die Felle, schnitt sie mit dem Messer zurecht und nähte emsig. Plötzlich ging der Fellvorhang am Eingang auf, und herein kam die weißhaarige alte Frau, der sie das Fleisch gegeben hatte.
»Hilf mir, liebes Mädchen«, sprach sie. »Entfern mir das Stäubchen, das mir ins Auge geflogen ist. Ich komme selber nicht damit zurecht.«
Das Mädchen sagte nicht nein. Sie legte die Arbeit fort und half der Alten.
»Gut«, sagte die, »jetzt tut es nicht mehr weh. Schau in mein rechtes Ohr!«
Das Mädchen blickte in ihr rechtes Ohr und erschrak.
»Was hast du dort gesehen?« fragte die Alte.
»Ein Mädchen sitzt in deinem Ohr.«
»Warum rufst du sie nicht? Tu es. Sie wird dir das Gewand für Kotura nähen helfen.«
Erfreut rief die Tochter des alten Mannes das Mädchen. Doch sie kam nicht allein - gleich vier junge Mädchen sprangen aus dem Ohr und begannen eifrig zu walken, zu schaben, zu schneiden und zu nähen. Schnell war die Kleidung fertig. Da tat die Alte die Mädchen wieder in ihr Ohr und ging fort.
Abends kam Kotura von der Jagd und fragte:
»Hast du alles gemacht, was ich dir befahl?«
»Ja.«
»Gib her, werden mal sehen, ob es paßt.«
Kotura nahm das Gewand und befühlte die Felle. Sie waren weich und schmiegsam. Er zog es an - es war weder zu kurz noch zu lang, nicht zu eng und nicht zu weit, war fest genäht und hatte ein schmuckes Aussehen. Da lächelte Kotura und sprach: »Du gefällst mir. Meiner Mutter und meinen vier Schwestern gefällst du auch. Du hast fleißige, geschickte Hände und bist ein tapferes Mädchen - um dein Volk zu retten, schrecktest du vor dem furchtbaren Schneesturm nicht zurück. Werd meine Frau! Bleib bei mir in meinem Zelt!«
Und wie er das gesprochen hatte, schwieg auf einmal der Sturm. Die Menschen kamen aus ihren Behausungen und froren nicht mehr.

»Achtest du auf die Kälte, wirst du frieren.«

Rudolf Geigers Betrachtung

Das Märchen führt in die weltabgelegene Weite einer Tundra. Diese durchtobt ein fürchterlicher Schneesturm mit schneidender Kälte, und das durch Tage hindurch ohne Unterlaß. Wir erfahren von einem Nomadendasein, das sich im Zelt abspielt. Kein fest gebautes Haus bewahrt vor der Wintergewalt. Noch hat sich der Mensch hier nicht so weit aus der Natur herausgesondert, daß er diesen Ansturm wenigstens im Schutz einer Hütte überdauern könnte. Den Vater, der mit seinen drei Töchtern im windzerfetzten, löcherigen Zelt haust, sehen wir preisgegeben dem Wüten eines Herrschers im Reich der Elemente, den der alte Mann Kotura nennt. Kotura ist der Herr der Winde. Von ihm hängt alles Ergehen ab. Der Mann im zerfetzten Zelt ist arm, sehr arm; von einer Viehherde wird nicht gesprochen; es fehlt sogar an warmen Kleidern; um zu sparen, wird nachts das Feuer gelöscht. Wir blicken in ein grausam hartes Dasein. Und doch geht von dem alten Mann eine besondere Strahlung aus. Sobald er aus der Bedrängnis und Not heraus Worte findet, sind es Worte einer übergreifenden Erkenntnis der Zusammenhänge, beginnt der ganze Umkreis mitzuschwingen:

»Der Sturm wird nie aufhören. Kotura, der Herr der blinde, hat ihn geschickt. Sicher zürnt er uns, denn er will, daß wir ihm eine gute Frau schicken. Gehe zu ihm hin, meine älteste Tochter, sonst muß unser ganzes Volk dran glauben. Geh hin und bitte ihn recht innig, er soll sein Brausen einstellen.«

Er spricht nicht nur begrenzt für sich und die um ihn Kauernden, obwohl sie aufs ärgste von dem katastrophalen Geschehen betroffen sind; er spricht deutlich für das ganze Volk. Alle Menschen rings um ihn sind die Seinen. Ist er, nüchtern gesagt, der Stammesführer? Ob nach außen anerkannt als solcher oder nicht, wir begegnen hier im unscheinbaren, ärmlichen Gewand einem Weisen, der über sein eigenes Ergehen hinaus, Leid oder Freude, den Pulsschlag des ganzen mit ihm lebenden Volkes in sich trägt. So ist seine Qual des Volkes Qual. Sein seherischer Sinn sagt ihm, nur eine Menschentochter kann den aufgebrachten Herrn der Winde besänftigen, und er ist sich gewiß, er muß sie ihm senden. Also bittet er seine älteste Tochter, zu Kotura zu gehen.

Was mag es sein, was Kotura so stark nach einer Menschentochter verlangen läßt? Vergibt er sich nichts in dieser Zuneigung zu einem Wesen aus dem sterblichen Geschlecht? Was erwartet er von ihr? Bringt das menschliche Seelenwesen durch seine Wärme dem Daseinsreich Koturas Ergänzung und Erfüllung? Wenn es stimmt, was der Vater ausspricht, so wirbt der Fürst der Winde allerdings auf eine erschreckend robuste, brutale Weise um eine Braut; mit Sturm, der nach Belieben auch vernichten kann. Wie soll man solch einen fürchterlichen Zerzauser lieben?

Aber der Vater - weit über den Zeltverstand hinaus eingeweiht -kennt im voraus den Widerspruch zwischen der drohenden Gebärde des Sturmriesen und dem, was sich dahinter verbirgt - eben die Lockung einer Windsbraut. Und so gibt der Vater seinen Töchtern, jeder erneut und eindringlich genug, die Weisung, dem vermeintlichen Übel, das im Schneesturm tobt, nicht zu widerstreben, sondern es gutgesinnt hinzunehmen. Nur im Erdulden, in der aktiven Hingabe, selbst ein Teil werdend des grandiosen Geschehens und für die Wegstrecke sein Eigensein nur noch im allerinnersten Winkel hütend, nur im bejahenden Ertragen des wilden Geweses liegt zugleich seine Überwindung. Die scheinbar aussichtslose Ohnmacht, die zunächst einsetzt, verwandelt sich, wird Gelassenheit, zuletzt Stärke.

Der Vater erkennt nicht nur aus den hintergründigen Zeichen, was des Schneesturmes Anlaß und des Herrn der Winde Verlangen ist, er weiß auch, wo Kotura wohnt und wie zu ihm zu gelangen sei. Mehr noch, er schafft sogar das wunderfähige Gefährt, das aus sich allein heraus den Weg zu finden vermag, von der Tundra aus, über die Grenze ins Reich der Elemente hinein - und sich dabei in allem Wettertosen und Flockengestöber nie verirren wird. Was könnte das in diesen schneebeschütteten Zonen anders sein als ein Schlitten!

Als besinnlich Letztes an diesem außergewöhnlichen Alten sei noch hervorgehoben, daß er am Ende der Ereignisse dem Herrn der Winde in seiner jüngsten Tochter zwar zu einer vortrefflichen Frau verholfen hat, selbst aber nun, all der Seinen entblößt, im zerfetzten Zelt allein zurückbleibt. Inmitten der anderen Zelte, in denen die glücklich aufatmenden Menschen sich freuen nach dem Sturm, ist die völlige Vereinsamung sein Los. Das sagt, er ist nun ganz und gar Vater seines Volkes geworden.





Rudolf Geiger, Märchenerzähler, (1908–1999)

"Gedruckt liegen Märchen nur in einem Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf und erst durch das Erzählen werden sie lebendig." (Rudolf Geiger)


Rudolf Geiger
»… vergnügt bis an ihr Ende …«
Ein Leben mit Märchen – Erfahrungen und Einsichten
160 Seiten, Klappenbroschur
EUR 17,80 (D) / 18,50 (A) / sFr 30,60
ISBN 3-932386-68-X


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© BücherWiki Community bzw. die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am 19. August 2006