BSF Rede Agenda2010


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Redebeitrag des BerlinerSozialforum für die Kundgebung am 01.06.2003 zum SPD Sonderparteitag

Liebe FreundInnen und Freunde,
wir freuen uns, dass ihr diesen Sonntag nach Neukölln gekommen und bis zum Ende der Kundgebung geblieben seit. Angesichts dessen, was heute im Estrel verabschiedet wird, wissen wir allerdings auch, dass wir viel zu wenige sind – viel mehr werden müssen.

Wir alle wissen, dass das Gesamtwerk Agenda2010 den bislang größten sozialpolitischen Angriff darstellt, der seit Bestehen der BRD geplant wurde und sicherlich heute von der SPD verabschiedet wird.

Unverschleiert zeigt sich in der Agenda, was sich hinter der schönen Rede der Modernisierung des Sozialstaats, der Mär von der Erwerbsarbeitssicherung durch Senkung der Lohnnebenkosten verbirgt: Ein Vormarsch neoliberalen Zuschnitts, ein Projekt das von vornerein auf Ausgrenzung und Zerschlagung von Solidarstrukturen, auf Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben und Güter und auf die Umverteilung von unten nach oben angelegt ist. Und wer bisher geglaubt haben sollte, dass diese Politik der Modernisierung oder Neuen Mitte eine einfach etwas modernere Variante der sozialen Marktwirtschaft sei, wer das Wortgeklingel von sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit für bare Münze genommen hat, dem zeigt die Agenda 2010 die hässliche Seite dieses Konzepts.

Es geht aber um mehr als um eine finanzielle Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Lasst uns dazu kurz einen Blick auf die propagandistischen Reden werfen, die den Kahlschlag begleiten. Da sind Reden von der goldene Hand, mit der jetzt Schluss sein müsse, wie Joschka Fischer dies kürzlich formulierte (FR Ende Mai), Reden über soziale Hängematten und Faulenzer, da ist ein Einschwören auf Selbstverantwortung, Egoismus und einen so genannten aktivierenden Staat, der wie wir alle wissen, seine derzeitige Aktivität einerseits auf den Abbau und Zerschlagung von Solidarsystemen und andererseits den Ausbau von Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Erwerblosen und SozialhilfeempfängerInnen?, den Ausbau von innerer Sicherheit und Grenzsicherung gegenüber Flüchlingen und MigrantInnen? beschränkt.

Betrachten wir also all diese Dimensionen der politischen Rede, wird deutlich, dass es um mehr geht, als um eine lediglich geld-bezogene Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, eine Umverteilung durch die einige immer reicher und ein Großteil – wie hier in Neukölln, wo Armut kein unbekanntes Phänomen ist - immer ärmer werden. Es geht um ein neues staatsentlastendes Modell des Sozialen in Deutschland, um einen Abschied von dem, was gesellschaftliche Verantwortung oder einer am Gemeinwesen orientierten Politik genannt wird - so minmal diese Verantwortung und dazugehörigen Wohlfahrtsversprechen auch immer waren. Ob unter dem Druck leerer kommunaler Kassen – die u.a. in Berlin nicht nur wegen der Wendekosten sondern auch aufgrund des Westberliner Klüngels und seiner Politik des in-die-eigene-Tasche-wirtschaften besonders leer sind – oder unter der Ägide weltweiter Konkurrenz, es wird eine Umstrukturierung im Sozial, Bildungs- und Kulturbereich durchgesetzt, die ihresgleichen sucht. So sind in Berlin beispielsweise Schwimmbäder nicht mehr zu bezahlen. Sie werden zum Luxusgut anstatt sie als Teil einer Kultur und Praxis des öffentlichen Raums zu begreifen. Feministische Einrichtungen werden geschlossen oder fallen einer Umstrukturierung anheim. Einrichtungen, die nicht nur Extra-Angebote für Frauen und Mädchen sind, sondern die die sozialen und politischen Folgen der hierarchischen Geschlechterverhältnissen zum Thema gemacht haben. Einrichtungen, die als notwendige Orte der Politisierung der Gesellschaft zu verstehen sind. Ähnliches gilt auch für die HIV/AIDS Arbeit und für erkämpfte Räume, in denen eine „Politik des Sozialen“ enstanden ist. Politische Orte fallen also zunehmend weg, die an denBedürfnissen der Menschen orientiert sind und die einem anderen Modell von Gerechtigkeit, Umverteilung und Politik folgen.

Sicher, dies sind alles nur einzelne Beispiele und viele von euch denken sicher auch, dass dies doch Peanuts sind – Peanuts im Zeichen der grossen Kahlschlagpolitik. Ich habe diese Beispiele aber genannt, weil sie zeigen sollen, wie schnell und massiv diese seit den 70er Jahren erkämpften Räume, politischen Modelle und alternativen Ansätze zurückgedrängt werden. Modelle, die über das kapitalistisch organisierte sozialstaatliche Modell hinausweisen. Gerade in Zeiten aber wie diesen, in denen nur von Sachzwang und leeren Kassen geredet wird, ist es wichtig, dass wir aus dieser Logik aussteigen. Ist es zentral, dass wir nicht nur das Schlimmste abwehren oder uns mit minimalen finanziellen Absicherungen oder einem engen Modell von Sozialpolitik zufrieden geben.

Ideen von einem guten Leben, von politischer Praxis und von dem, was wir unter Politik verstehen, sind in den letzten 30 Jahren weiter geworden. Und wir sollten dies nicht als Luxus der fetten Jahre abtun. Denn wenn wir weiterhin davon überzeugt sind, dass fremdbestimmte und schlecht bezahlte Lohnarbeit, dass Konkurrenz und geschlechtspezfische Arbeitsteilung ein gutes Leben verhindern, wenn wir Bildung, nicht nur als etwas verstehen, das auf schnelle, stromlinienförmige und verwertbare Abschlüsse hinausläuft, wenn wir Gesundheit denken als etwas, das nicht nur (eine zunehmend schlechte) Versorgung von Kranken und Pillenmedizin meint, sondern Gesundheit mit Fragen nach Gesundheitsförderung, Arbeits- und Umweltschutz, bezahlbaren und guten Wohnraum, mit der Möglichkeit selbstbestimmt über das Leben zu entscheiden, verbindet – wenn wir all das noch im Kopf haben, müssen wir die „soziale Frage“ re-politisieren. Wir müssen ernstnehmen, was uns da als Politik und Leben geboten wird. Wir müssen uns auch gerade hier einmischen.

Geteilte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit! Und eine Politik, die sich einfügt in eine gegebene politische und soziale Ordnung, schließt nicht nur viele aus, sondern bleibt dem Status Quo verhaftet.

Aber auch für die sozialen Bewegungen und ihre Erfolge sollten diese Rückschritte Erinnerungshilfen sein. Aufforderung dazu, unsere Politiken immer auch nach den gesamtgesellschaftlichen Perspektiven von Gerechtigkeit, den Prinzipien vonVerteilung, der Produktion (-sverhältnisse) des gesellschaftlichen Reichtums und den Bedingungen von Politik zu befragen. Neoliberale Kahlschlagpolitik ist nicht eine besonders gemeine Politik, sondern Effekt einer globalen Kräftekonstellation, in der das transnational operierende Kapital derzeit erfolgreich lediglich seinem „natürlichen“ Prinzip folgt, für sich möglichst profitable Bedingungen zu schaffen. Wenn sich soziale Bewegungspolitik in der Absicherung von Nischen und Teilbereichen zufrieden gibt, wenn sie sich gegeneinander ausspielen läßt, und den sozialstaatlichen Umbau – wie jetzt durch die Agenda 2010 – nicht auch auf eigene Bewegungsspielräume und Perspektiven bezieht, entzieht sie sich langfristig selbst den Boden.

Angesichts dieser Lage – so eine eher pessimistische Einschätzung - ist es nicht so erstaunlich, dass sich Widerstand nur wenig und allzu brav regt, in Teilbereichskämpfen erschöpft und bestenfalls versucht, das allerschlimmste zu verhindern. So scheint es, als interessieren sich für die „soziale Frage“ und den sozialpolitischen Kahlschlag lediglich Gewerkschaften und einzelne Sozialträger, während Proteste gegen die Privatisierung des öffentlichen und kulturpolitischen Raums primär Sache von Intellektuellen und Kulturschaffenden scheint, während sich die Reste der sozialen Bewegungen oder der Projektelandschaft vereinzelt und oft in Konkurrenz zu einander in der Verteidigung letzter Räume und Ressourcen üben.

Seit einiger Zeit gibt es allerdings Versuche, diese Situation zu verändern und eine Position links (-radikal) davon zu entwickeln. Dafür steht das Sozialforum. Seit nunmehr 3 Monaten treffen sich in Berlin Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, politischer Gruppen und Einzelpersonen mit dem Ziel, hier in Berlin eine radikale emanzipatorische Perspektive gegen die neoliberale Politik zu entwickeln und auf eine aktivere, eingreifende und breiterer Basis zu stellen. Die Idee, Sozialforen gegen die neoliberal-kapitalistische Globalisierung zu bilden, entstammt einer weltweiten Bewegung: Diese ist entstanden als Reaktion auf die immer brutaler werdenden Verhältnisse weltweit, Verhältisse, in denen die Millionen Opfer nicht mal mehr gezählt werden, weil sie nicht zählen, und in denen immense Finanzsummen, Sicherheits- und Militärapparate in die Regulierung von Flüchlings- und Migrationsbewegungen investiert werden. Sie ist entstanden als Reaktion auf eine internationale Politik, die die Logik und Erfordernisse des Weltmarktes – und das heißt transnational operierender Unternehmen – zum Maßstab der Politik erklärt, die alle gesellschaftlichen Bereiche einer ökonomischen Logik unterwirft, und durch Deregulierung des Sozialen und Privatisierung öffentlicher Güter und Aufgaben – wie Wasser, Transport, Bildung und Gesundheit - bestimmt ist. Auch wenn sicher die Situation in den verschiedenen Ländern nicht einfach zu vergleichen ist – und auch nicht einfach zu verglichen werden sollte, denn das ließe die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Regionen und Kontinenten außen vor – gibt es doch vielerorten ähnliche Angriffe und Prozesse. Sie ist aber auch entstanden als Reaktion auf die weltweite Begrenztheit der traditionellen Arbeiterbewegung, gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend zu verändern über bisherige Gesellschaftsmodelle hinaus zu gestalten. So vereint sie wichtige Ansätze aus gewerkschaftlichen, feministischen und ökologischen Bereichen mit der Frage weltweit gerechter Verhältnisse. Ihre Stärke resultiert aus einer basisdemokratischen Verankerung, der Koexistenz und Diskussion verschiedener politischer Strömungen und der Zuspitzung politischer Konflikte. Neben den mittlerweile bekannten Gegengipfeln und internationalen Demonstrationen, wie heute in Evian, haben sich in der Zwischenzeit Sozialforen in einzelnen Kontinenten, Ländern, Regionen und Städten gebildet. Sie versuchen, die globalen Fragen auf eine Ebene runterzubrechen, die sie für die Mehrheit der Menschen erfahrbar und sichtbar macht. Sie versucht, diese mit den sozialen und politischen Fragen vor Ort zu verbinden und über bisherige Antworten und Modelle hinauszureichen.

Genau letzteres ist eine große Herausforderung. Es ist aber auch genau das Spannende an dieser neuen Politik von unten. Wir sind keine neue Bewegung oder Partei, und wir haben kein Parteiprogramm mit einfachen Lösungen. Nein, wir haben viele offene Fragen daran, wie eine Politik der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit, wie eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtums und Arbeit konkret verwirklicht werden kann. Wir wissen aber, dass es nicht einfach die Verteidigung des Bestehenden sein kann!

Wir wollen keine nationalstaatliche Lösungen, die auf globalen Ausbeutungsprinzipien und einem Ausschluss all derjeniger beruht, die ökonomisch nicht von Nutzen sind. Und wir wollen kein Beschäftigungs- und Eigentummodell, in dem immer mehr Menschen noch mehr arbeite, noch weniger Freizeit haben und sich immer weniger um gemeinschaftliche Belange kümmern zu können. Kein Modell, in dem einige immer besser von der Arbeit und der Armut der anderen leben können. Und wir wollen sicher kein politisches Modell, in dem die Gestaltung der Belange der Menschen an einige wenige delegiert und den Erfordernissen des Marktes und seiner Nutznießer unterordnet ist. Aber auch wenn viele Fragen offen sind, sind einige Antworten jetzt schon klar.

Wir weigern uns, weiter vom Sachzwang des Marktes und eines als alternativlos hingestellten Modells unsere Politik diktieren zu lassen. Wir haben berechtigte Ansprüche auf ein gutes Leben, auf einen Anteil des gesellschaftlichen Reichtums, auf einen Zugang zu Bildung, Wohnraum, Kultur, Gesundheitsversorgung und Mobilität für alle. Wir kämpfen für eine radikale Umverteilung der Arbeit – der bezahlten und nicht bezahlten - und für eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Bildungs- und Gesundheitspolitik. Aus der Überzeugung, dass es niemanden gibt, der es schon richten wird, dass eine Politik, die nicht am Markt sondern an den Bedürfnissen der Menschen, an Gerechtigkeit und basisdemokratischer Gestaltung orientiert ist, von niemanden als von uns selbst entwickelt und erkämpft werden kann, stehen wir hier.

Wir brauchen eine starke, aus möglichst vielen Perspektiven zusamengesetzte politische Praxis. Denn nur so kann eine radikale emanzipatorische Alternative zum Neoliberalismus, gegen Armut und die Verschlankung des Politischen entwickelt werden. Wir brauchen politische Orte, um aus Resignation und Vereinzelung herauszukommen, Orte des Streits, um unsere Positionen zu schärfen, unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und Konflikte zuzuspitzen.

Agenda heisst Tagesordnung. Wir sagen nein zu dem, was uns in der Agenda 2010 auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wir wissen, dass eine andere Agenda möglich ist – nur müssen wir sie jetzt, gemeinsam und mit vielen mehr erkämpfen!


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