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Bedrohte Völker Sibiriens

Sibirien: Vergifteter Traum


pro sibiria e.V. - Partnerschaft mit Sibirien

pro sibiria e.V. ist eine Initiative, die seit 2003 in breiterem Rahmen fortsetzt, womit vor zehn Jahren der Münchner Verein "Itenmen e.V." mit regional begrenztem Schwerpunkt (Hilfsprojekte für Kamtschatka) begonnen hat. Wir, das ist eine Gruppe von Sibiriern, Sibirien-Fachleuten und -Enthusiasten aus ganz Deutschland, haben unter neuem Vereinsnamen die Vereinstätigkeit sowohl regional als auch inhaltlich ausgeweitet.

pro sibiria e.V. will dazu beitragen, dass in Sibirien sowie im russischen Norden und Fernen Osten nachhaltige Veränderungen hin zu einer sozial gerechten, ökologisch verträglichen Entwicklung stattfinden. In erster Linie setzen wir uns für die Verbesserung der Lebensumstände der einheimischen Bevölkerung in besonders abgelegenen Gebieten ein. Zu dieser Bevölkerung gehören vielfach Gruppen benachteiligter ethnischer Minderheiten.

In Form von Projektförderung sollen Initiativen gestärkt werden, die durch das Engagement von Menschen vor Ort entstanden sind und finanzielle Mittel brauchen, um fortgeführt werden zu können. Konkrete Ziele sind z.B. die Verbesserung sozialer Verhältnisse, die Wiederherstellung, der Erhalt und der Schutz natürlicher Lebensgrundlagen, die Förderung von Kultur in verschiedenen Bereichen, die Unterstützung von Initiativen zu wirtschaftlicher Eigenständigkeit in von Arbeitslosigkeit und Armut betroffenen Gebieten, die Stärkung der Gleichstellung von Frauen und Männern.

pro sibiria e.V. leistet neben der Förderung von Projekten im Ausland auch Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit in Deutschland. Wir informieren über die Lebensbedingungen der Menschen in Sibirien und über die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den Regionen unserer Par tner. Alle Vereinsmitglieder engagieren sich auf ehrenamtlicher Basis.


Indigene in Sibirien
Der schwierige Weg zu Selbstorganisation und Selbstbestimmung
Theodor Rathgeber, 01. Januar 2006
aus: bedrohte völker_pogrom 235, 1/2006

Das eigene Überleben zu organisieren und zu garantieren, wird indigenen Völkern nirgends leicht gemacht; von der Weiterentwicklung eigener Vorstellungen zur Lebensführung ganz zu schweigen. In der Russischen Föderation scheint vieles davon noch schwieriger zu sein. Die beunruhigende Rückkehr zum autoritären Staat und Minderung zivilgesellschaftlicher Beteiligung an lebenswichtigen Entscheidungsprozessen, die rücksichtslose Durchsetzung bei der Privatisierung öffentlicher Güter wie Wald, Wasser, Land und Wohnung, oder die Auslagerung indigener Sprache und Geschichte aus dem öffentlichen Unterricht selbst in gutwilligeren Landsregierungen wie der karelischen Republik lassen indigene Völker in der Russischen Föderation politisch dort stranden, wo andere – etwa in Lateinamerika – vor ungefähr 35 Jahren zu kämpfen begonnen haben. Das ist nicht als Wertung auf einer Fortschrittsskala indigener Kämpfe zu verstehen, sondern soll die enorme Herausforderung andeuten, vor der die Angehörigen indigener Völker in Russland stehen.

Schon während des Zusammenbruchs der Sowjetunion, im März 1990, gingen die indigenen Völker daran, sich eine Dachorganisation zu schaffen, den Zusammenschluss der indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens * (RAIPON) - * (englischsprachige RAIPON-Seite). Nach einem erfrischenden Auftakt setzten sich allerdings vermehrt Personen an die Spitze der Organisation, die ihre Herkunft aus der früheren Nomenklatura nicht verleugnen konnten. Dies mag geholfen haben, die Dachorganisation überhaupt am Leben zu halten. Es lag ja viel Organisationserfahrung vor, und manche Kontakte von früher halfen wohl auch, gefährliche Klippen zu umschiffen, ohne dass die staatliche Sicherheit sich bedroht fühlen musste – insbesondere vor und nach dem Putschversuch eine heikle Angelegenheit. Auch auf dem internationalen Parkett trug RAIPON einiges dazu bei, dass in der Russischen Föderation lebende indigene Völker im Ausland und bei den Vereinten Nationen überhaupt wahrgenommen wurden.

Die strikte Verteidigung indigener Interessen gegenüber dem Staat blieb bei RAIPON jedoch eher unterentwickelt. Verhandlungen mit der Tendenz zum Kompromiss wurde der Vorrang vor der Mobilisierung indigener Gemeinschaften gegeben. Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein. Einige indigene Gemeinschaften wurden jedoch angesichts einiger spürbarer Konsequenzen solcher Verhandlungen skeptisch. Der drohende Verlust der Identität, der eigenen Lebensführung und der dazu notwendigen lokalen, natürlichen Umgebung schien mit Verhandlungen allein nicht aufzuhalten zu sein; vor allem, wenn Landrechte oder die Ausbeutung von Bodenschätzen auf dem Spiel standen. So entstanden vor ungefähr zehn Jahren Initiativen und Organisationen in einzelnen Regionen und Gemeinden, die ihre eigenen Interessen vehementer zu vertreten begannen. Die meisten hielten zwar Kontakt zu RAIPON, brachten jedoch Konflikte selbständig entweder vor Gericht oder auf die Straße, errichteten Blockaden und forderten den Staat und seine Behörden heraus.

Mit dem Informations- und Ausbildungsnetzwerk * Lauravetlan (LIENIP –Lauravetlan Information and Education Network of Indigenous People) entstand ab 1997 ein regionaler Verbund, der sich auf die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte konzentrierte. Mit der Zeit konnten drei Informations- und Trainingszentren in der karelischen Republik, im Krasnojarsk Krai und in der Republik Altai eingerichtet werden. Seit 2003 organisiert LIENIP Trainingseinheiten von sechs Wochen, an denen bevorzugt junge Angehörige indigener Völker teilnehmen. LIENIP ist außerdem dabei, ein Netzwerk mit verschiedenen lokalen Initiativen aufzubauen und die Zusammenarbeit zwischen diesen zu fördern.

Die Trainingskurse, Seminare und Konferenzen beinhalten eine Übersicht über nationale und internationale Rechte indigener Völker, die Möglichkeiten der Förderung kultureller Aktivitäten wie etwa die Einrichtung eines Kulturzentrums oder den Aufbau eines lokalen, an die Schule angegliederten Museums, die Darstellung der sozialen Situation einzelner indigener Gemeinschaften durch die Kursteilnehmenden, die vereinzelte Hilfestellung zur Überwindung einer sozialen Krise in einer Familie, oder die Ausarbeitung gerichtsverwertbarer Informationen in Landrechtsstreitigkeiten (um nur einige Beispiele zu nennen). Die Teilnehmenden sollen in die Lage versetzt werden, die Interessen ihrer Gemeinschaft aktiv zu vertreten, zunächst vor allem gegenüber den lokalen und regionalen Behörden. Manche behördlichen Repräsentanten zeigen durchaus Sympathie für die Existenz indigener Völker. Sie benötigen jedoch die entschiedene Einmischung solcher aktiven Vertreter indigener Interessen, um sich bei den Planungen für die Region nicht in den Fallstricken eines rein industriellen Entwicklungsleitbildes zu verstricken.

Diese Förderung der lokalen Fähigkeiten und Möglichkeiten ist von grundlegender Bedeutung. Wer in der Bevölkerung Russlands je die Verzagtheit, Hoffnungslosigkeit und gleichzeitige Erwartungshaltung an den Staat erlebt hat, wird die enorme Leistung solcher Initiativen abschätzen können, den Menschen wieder die Fähigkeit zu eröffnen, sich selbst zu organisieren und schlicht ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Das Vertrauen in die eigene Kraft – in den 1980er Jahren unter dem Begriff Self-Reliance und heutzutage als Empowerment befördert – erweist sich unter den aktuellen Bedingungen als unschätzbar für jegliches Ansinnen, die Zukunft mit eigenen kulturellen Leitbildern ausstatten zu wollen. Nebenbei bilden solche Initiativen auch den Humus einer demokratisch ausgerichteten Alternative für Russland.

Damit dies auch für die Zukunft weiter entwickelt und ein selbst bestimmtes Leben geführt werden kann, brauchen solche Initiativen nicht nur Unterstützung sondern aktive Zusammenarbeit. Möglichkeiten dafür bieten Projekte wie Dokumentation und Archivierung indigener Sprachen, um sie für den Schulunterricht späterer Generationen zur Verfügung zu haben, das Sammeln und Austauschen von guten Erfahrungen mit lokalem Wirtschaften oder mit Erdölkonzernen. Die Zukunft indigener Völker in der Russischen Föderation ist mit vielen Fragezeichen befrachtet. Einige optimistisch stimmende Antworten geben Organisationen wie das Informations- und Ausbildungszentrum Lauravetlan.


JuriRytchëu
Der stille Genozid
Über den Mord an den kleinen arktischen Völkern Russlands
Sankt-Petersburg, Dezember 1995

Der Nuklearkrieg gegen die Menschheit hat lange vor dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki begonnen - als die radioaktive Asche von Kernwaffentests sich mit dem Wind, mit Fluß- und Meeresströmungen über die ganze Erdkugel verbreitete und still die Natur vergiftete. Weil die Tests in sogenannten dünnbesiedelten Gegenden durchgeführt wurden, bekamen den ersten Schlag kleine ethnische Gruppen ab, Nomaden der kasachischen Steppen, und später, als die Tests auf ferne Inseln des Stillen Ozeans und der Arktis verlagert wurden, die dortigen Bewohner.

Rufen die Tests auf den Inseln des Stillen Ozeans von Zeit zu Zeit weltweit eine Welle von Protesten hervor, so gab es anläßlich der jeweiligen Atombombendetonationen auf der weit hinterm Polarkreis gelegenen Nowaja Semlja kein besonderes Aufheben, ja, kaum jemand wußte davon. Leiden mußten darunter natürlich in erster Linie die Bewohner der Arktis, Jäger und Rentierzüchter, aber wer schenkt denen schon Aufmerksamkeit!

Zumal der stille Genozid an den kleinen arktischen Völkern Rußlands praktisch schon Jahrhunderte dauert.

Genaugenommen begann das bereits mit den ersten Kontakten der arktischen Völker zu europäischen fahrenden Eroberern oder, wie sie in Rußland genannt wurden, Forschungsreisenden. Das Vordringen der Russen in den Nordosten war keineswegs ein friedlicher Vorgang - woher käme sonst bei den Tschuktschen die heldische Folklore, die Siege über russische Eroberer schildert und bis vor kurzem nicht veröffentlicht werden durfte. Aber Geschichte ist Geschichte, und ungeachtet der Bemühungen ideologischer Berichtiger haben sich diese blutigen Ereignisse unauslöschlich ins Gedächtnis des Volkes eingeprägt.

Doch das, was in den Jahren der Sowjetmacht mit dem Norden geschah, entzieht sich jedem Vergleich mit den Feldzügen der russischen Kosaken, mit der Vernichtung einzelner Familien und dem Gemetzel in Nomadenlagern und Küstensiedlungen.

Das begann bereits in der Epoche des GULAG, als viele Gegenden der Arktis in den Wirkungsbereich so gewaltiger Lager-Industriegruppen gerieten wie Dalstroi. Auf Tschukotka betraf das die Tschauner und Egwekinoter Gebiete mit ihrem Reichtum an Uran, Gold und anderen seltenen, strategisch wichtigen Bodenschätzen. Um die Erschließung dieser oder jener Vorkommen in Angriff zu nehmen, die sich in der Regel auf Weideflächen von Rentieren befanden, vertrieb man die Menschen einfach von den bewohnten und erschlossenen Orten, und falls sie sich widersetzten, wurde ohne viel Worte auf sie geschossen.

Das Ergebnis war, daß es heute im Tschauner Gebiet, das so groß ist wie einige europäische Staaten zusammengenommen, keinen einzigen fischreichen Fluß mehr gibt. Ganz zu schweigen von der für Jahrhunderte zerstörten dünnen Schicht Mutterboden, auf der nun schon für einige kommende Generationen kein Rentiermoos mehr wachsen wird. Die tschuktschischen Rentierzüchter sind gezwungen, an ungeeignete Orte wegzuziehen, haben ihre einzig zuverlässige, garantierte Existenzgrundlage verloren.

Einmal führte mich der Weg auf die Goldfelder von Komsomolski, unweit des arktischen Hafens Pewek, an eine Stelle, wo nun schon etliche Jahre ein Naßbagger für die Goldgewinnung eingesetzt ist. Die Gegend erinnerte an eine Mondlandschaft, und weithin erklang unheilvolles metallisches Knirschen, das alles Lebendige verschreckte. Es war unmöglich, diese triste, leblose Landschaft ohne inneres Erschauern zu betrachten. Sogar die Menschen, die den Naßbagger bedienten, kamen mir wie mechanische Geschöpfe, wie Roboter vor. Viele Kilometer weit gab es keinen einzigen Vogel, kein Wild, nicht mal eine Polarmaus. Alles war verschwunden, war davongelaufen vor diesem eisernen Ungeheuer, das die Erde verschlang.

Wer durch die arktische Tundra fährt, trifft auf Hunderte von rostigen Fässern, auf Kahlstellen, wo die Erde von unbekannten Giften, von Treibstoffen und Schmierölen zerfressen ist, auf halbzerstörte Metallkonstruktionen, Bohrtürme, Werkbänke, Raupenketten... Die Spuren solcher Raupenketten sollen heute sogar aus dem Kosmos zu sehen sein.

Die Öffentlichkeit hat wiederholt die Frage nach dem Schutz der arktischen Umwelt aufgeworfen - in der Presse, auf hochrangigen Versammlungen, in der sowjetischen und dann in der russischen Regierung. Beschlüsse wurden gefaßt. Zum Beispiel über die obligatorische Rekultivierung von verdorbenen Bodenflächen. Auf ebenjenen Goldfeldern von Komsomolski zeigte man mir einen Tundraflecken von einigen Dutzend Quadratmetern, der rekultiviert und mit irgendeinem Gras besät worden war. Die Herren von der Obrigkeit begriffen nicht, wie lächerlich diese Demonstration war, umgaben uns doch Hunderte und Tausende Quadratkilometer für ewig toten Bodens!

Doch das sind sozusagen die sichtbaren Spuren der Zerstörung von Natur und Boden der Arktis.

Es gibt eine noch schlimmere Gefahr, die das Land und die Menschen der Arktis allmählich schwer geschädigt, ihnen viele Jahre Schlag auf Schlag versetzt und so die ohnehin nicht zahlreichen eingeborenen Völker der russischen Arktis dezimiert hat.

Ich meine die Tätigkeit des Militärs.

Sie begann gleich nach Ende des zweiten Weltkriegs, als ganze Divisionen der Roten Armee aus Deutschland nach Tschukotka verlegt wurden. Unter den Ortsansässigen kamen damals verschiedene Gerüchte auf. Den einen zufolge wurde ein Überfall von Amerika befürchtet, andern zufolge sollten umgekehrt die Vereinigten Staaten erobert werden, sobald erst über die Beringstraße hinweg Alaska eingenommen wäre. Was den Überfall auf Amerika anbelangt, so existierte unter meinen Landsleuten die feste Überzeugung, daß dies unmöglich sei, da doch die Beringstraße einen großen Teil des Jahres wegen des ständig driftenden Eises unpassierbar sei, weder einen Panzer noch auch nur ein Hundegespann passieren lasse.

Die Militärs aber begannen alsbald die Fische mit Bomben und Granaten zu betäuben, am Ufer lagernde Walrosse mit überschweren Maschinengewehren zu erschießen, die sauberen Küsten mit Dieselöl und Masut zu verschmutzen. Beschwerden der Ortsansässigen wurden mit Hinweis auf Geheimhaltungszwänge und die Interessen der Landesverteidigung abgewiesen. Mit der gleichen Begründung wurden einmalige Eskimosiedlungen in Naukan, auf Kap Denesh und auf der Insel Bolschoi Diomid liquidiert und ihre Bewohner über Tschukotka verstreut.

Während der Manöver wurden riesige Gebiete, in der Ausdehnung großen europäischen Staaten vergleichbar, der unbeschränkten Verfügungsgewalt des Militärs übergeben, und niemand weiß, was dort nicht nur mit der Natur geschah, sondern auch mit der Tierwelt, mit den Nomadenhirten. Etwas aber konnte man doch bemerken: Verändert haben sich sogar die gewohnten, in Jahrtausenden unabänderlich gewordenen Flugwege der Vögel. Sie umfliegen jetzt die gefährlichen Abschnitte der Tundra und der Meeresküste.

Niemand weiß bisher mit Sicherheit, welche Waffen in der arktischen Tundra und auf den Inseln erprobt wurden, was für eine Luft meine Landsleute jahrzehntelang atmen mußten, welche Gifte die Tundravegetation durchdrangen, sich im Rentierfleisch ablagerten und so spürbar den Organismus der Nordländer zerstörten, die einstmals eine hervorragende Gesundheit besaßen.

Vor einigen Jahren, als ich an den Feiern zum hundertsten Geburtstag des berühmten schwedischen Polarforschers Nordenskiöd teilnahm, besuchte ich das Stockholmer ethnographische Museum und sah uralte Fotografien meiner Landsleute. Unübersehbar waren die offenkundige Gesundheit, der lebensfrohe Blick, die glänzenden, forschenden Augen meiner Landsleute und Stammesgefährten. Das waren Menschen, die mit ihrem Leben zufrieden waren, voller Selbstsicherheit und Selbstachtung. Heute findet man solche Gesichter nur selten in meiner Heimat, auf Tschukotka. Meist sieht man erloschene Augen, eine ungesunde, aschfahle Gesichtsfarbe - offenkundige Merkmale schlecht ausgeheilter oder gänzlich unheilbarer chronischer Erkrankungen.

Heute ist es kein großes Geheimnis mehr, daß die stark gesunkene Geburtenrate und das Ansteigen der Sterblichkeit bei den Nordländern nicht zuletzt von einer erhöhten radioaktiven Strahlung verursacht ist, die keineswegs von Tschernobyl herrührt.

Tschernobyl hat in der Arktis viel früher begonnen als am Fluß Pripjat, in der ehemaligen Unionsrepublik Ukraine. Und bis heute können wir nur Vermutungen anstellen über den Beginn des stillen Genozids an den kleinen Völkern der Arktis, die die seelenlose sowjetische Militärmaschinerie zum Tod verurteilt hat.

Schon zu Beginn der sechziger Jahre, als der Bau des Bilibiner Kernkraftwerks geplant wurde, eröffnete die Sowjetpropaganda eine breite Kampagne zum Nachweis, daß die Atomenergie die einzige Quelle einer zuverlässigen und ökologisch sauberen Energie für die Arktis darstelle.

Niemand konnte jedoch ahnen, daß unter dem Deckmantel dieses Rummels eine sogenannte technische Atomexplosion beim Staudammbau für das Wasserkraftwerk Wiljuisk im benachbarten Jakutien stattfand und auf der Insel Nowaja Semlja atomare Versuchsexplosionen erdröhnten, die hundertfach stärker waren als die Explosionen der über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben.

Mein alter Freund, Doktor Wolfson, hat auf eigenes Risiko die ersten Versuche unternommen, Daten über den Einfluß der Strahlung auf die Gesundheit der Bewohner von Tschukotka zu sammeln. Veranlaßt hatten ihn dazu Daten über eine jähe Zunahme von Geschwulsterkrankungen unter den Rentierzüchtern und Meeresjägern auf der Tschuktschenhalbinsel. Doch seine Eingaben an die Obrigkeit wurden sofort vom KGB blockiert, und er besuchte mich geradezu heimlich, um mir seine Besorgnisse mitzuteilen. Bereits in den sechziger Jahren hatte Wolfson festgestellt, daß die Sterblichkeit unter den Ortsansässigen doppelt so hoch war wie die allgemeine Sterblichkeit in der UdSSR? und schon viele Jahre nicht mehr abnahm. Die Menschen starben meistens an Lungenkrebs, an Darmtumoren, an Leukämie, Milchdrüsenkrebs und an Osteosarkomen. Damals war er zu dem Schluß gekommen, daß die Ursache für die jähe Zunahme dieser Erkrankungen die erhöhte radioaktive Strahlung auf Tschukotka sei.

Etwa von der Zeit an hatte das Leningrader Forschungsinstitut für Strahlungshygiene auf Tschukotka Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse sofort der Geheimhaltung unterworfen wurden. Nach ihren Unterlagen war die allgemeine Strahlendosis bei der Urbevölkerung von Tschukotka dreimal so groß wie die entsprechende mittlere Dosis in den anderen Gebieten der Sowjetunion. In dieser Untersuchung werden natürlich die unmittelbaren Quellen und die Schuldigen an der erhöhten Untergrundstrahlung, das heißt die Militärs, nicht genannt, aber andere Gründe gibt es einfach nicht. Es wird nur auf die Kette verwiesen, über die die Radionuklide in den Organismus des Tundramenschen gelangen: Flechten (Nahrung des nördlichen Rentiers) - Rentier -Mensch. Wer aber in die Flechten Substanzen des Kernzerfalls hineinträgt - darüber fehlt in dem wissenschaftlichen Dokument sogar der geringste Hinweis.

An den genannten Krankheiten leiden nicht nur die Rentierzüchter, sondern auch die Bewohner der Küstensiedlungen, die sich hauptsächlich vom Fleisch und Fett der Meerestiere ernähren - von Seehund, Robbe, Walroß und Walfisch. Bekanntlich ernähren sich diese Tiere vorwiegend von kleinen Krebsen, die im Flachwasser leben.

Die Verschmutzung des Nördlichen Eismeeres mit Atommüll wird zumeist auf den Beginn des Einsatzes von Atomeisbrechern auf der Trasse des Nördlichen Seeweges zurückgeführt. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Darstellungen richtig. Bereits 1959 wurde während der Probefahrten des Atomeisbrechers "Lenin" sogenannter schwachaktiver Abfall ins Wasser abgelassen. Diese Nachrichten sickerten in die offene Presse durch, aber was die Atom-U-Boote in den nördlichen Meeren abgelassen und versenkt haben, darüber werden wir heute wohl kaum die volle Wahrheit erfahren - Militärs verstehen es, ihre Geheimisse zu wahren! Doch es gab auch unvorhergesehene Lecks in der sorgfältig gehüteten geheimen Information. So fischte im Oktober 1984 die Mannschaft des Schiffes "Lepse" einen schwimmenden Container mit einer Gammastrahlung von 160 Röntgen pro Stunde aus der Abrossimow-Bucht. Wie sich später herausstellte, hatten die Militärs einfach vorbeigeschossen: Um solche Container möglichst schnell in die kalten Tiefen zu versenken, beschossen sie derartige Container schlichtweg mit Schiffskanonen und überschweren Maschinengewehren. Doch auch ohne derartigen Beschuß wird ein Metallcontainer im Wasser bekanntlich nach zehn Jahren zu Schrott und ein betonierter nach dreißig Jahren.

Am schwersten traf es die Insel Nowaja Semlja, ein einmaliges Stück Land im Eismeer, Heimat der polaren Nenzen, die es fertiggebracht hatten, das Land lange vor dem Erscheinen europäischer und russischer Reisender zu erschließen. Hier lagen seit Urzeiten ihre Jagdreviere, ihre Weiden für Rentiere.

Die Ureinwohner der Insel Nowaja Semlja ahnten nicht einmal, daß ihre Obrigkeit mit ihnen genauso verfuhr wie die USA und Frankreich mit den Eingeborenen der pazifischen Inseln, wo sie ihre Kernwaffentests durchführten. Der ganze Archipelag war ein abgeschottetes Gebiet. Unberücksichtigt blieb sogar die globale Bedeutung von Nowaja Semlja für den Zustand der Fischpopulation in der Barentssee, in der fast alle europäischen Staaten Fischfang ausüben, ganz zu schweigen von unserem Land.

Den Einfluß der Kernwaffenversuche auf die Ureinwohner der Arktis können wir nur ahnen, doch Wissenschaftler haben bereits berechnet, daß allein die Tests der Jahre 1961 bis 1963 auf Nowaja Semlja die größten arktischen Kolonien von fischfressenden Vögeln nahezu vollständig vernichtet haben. Diese Vögel fressen nicht nur Fische, sondern beeinflussen aktiv auch deren Reproduktion, denn ihr Kot dient als Dünger für das Phytoplankton. Auf die Brutplätze von Nowaja Semlja kamen jährlich bis zu acht Millionen Vögel. Heute sind sie praktisch leer und still, und nur selten kann man einen einsam vorbeifliegenden Vogel sehen, wo bis zum Beginn der Kernwaffentests Vogelschwärme zeitweise das Sonnenlicht verdunkelten.

Wasser hat bekanntlich die Eigenschaft zu fließen. Es fließt nicht nur, es vermischt sich auch, legt mit den Strömungen große Entfernungen zurück. Mit dem aufgenommenen Gift bringt es nicht nur Tieren und Vögeln Unheil, sondern vor allem dem Menschen, indem es alles vergiftet, was noch vor kurzem das Maß für natürliche Reinheit zu sein schien. Jetzt ist es keine Seltenheit mehr, wenn eine schwarze Eisscholle an Ihnen vorbeischwimmt, bedeckt mit Masut und Erdölflecken, wenn - vor allem im Umfeld industrieller Betriebe und Siedlungen - der Schnee längst sein jungfräuliches Weiß eingebüßt hat.

Dennoch kann man auf diesem weißen Schnee leicht Blut entdecken, das Kranke aus ihren angegriffenen Lungen gespuckt haben. Es scheint, als sei der Himmel über der Tundra immer noch rein, an wolkenlosen Wintertagen von einer Vielzahl klarer Sterne überschüttet, erhellt von Erscheinungen des Polarlichts. Und wer die von einer unssichtbaren, todbringenden Strahlung vergiftete Luft einatmet, wer zartes Renfleisch ißt, dessen Fasern den Tod bergen, kann nicht der Logik folgen, nach der man angeblich dem Schutz der gesamten Menschheit, der Sicherheit von Millionen Menschen zuliebe, methodisch, insgeheim, unter Bedingungen strengster Geheimhaltung ganze Völker töten muß! Denn die sogenannten kleinen Völker der Arktis zählen wirklich wenige Menschen, verglichen beispielsweise mit den Chinesen, den Russen oder Franzosen. Wenn auf Nowaja Semlja Kernladungen getestet oder mit Atomwaffen ausgerüstete U-Boote unterm Eis des Nördlichen Eismeers auf Fahrt geschickt werden, wenn strategische Bomber unter der Losung aufsteigen, die Sicherheit der Staaten zu gewährleisten, kommt einem unwillkürlich der Gedanke, daß der Atomkrieg mit den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki noch nicht zu Ende war. Er währt seither viele Jahre, und seine Opfer sterben jeden Tag an der gesamten arktischen Küste.

Unlängst veröffentlichte die russische populär-wissenschaftliche Zeitschrift "Wissenschaft und Leben" eine Karte, auf der die Grabstätten radioaktiver Abfälle auf dem Boden des Eismeers eingezeichnet sind. Sie liegen dicht um Nowaja Semlja, in der Barentssee. Nach Osten zu scheint einstweilen noch nichts zu sein. Und das nicht, weil das Meer da noch nicht verschmutzt wäre, sondern einfach, weil die Forschungsschiffe, die meistens auf eigenes Risiko von einzelnen Enthusiasten ausgerüstet werden, schwerer hinkommen. Wir können die todbringende Gefahr nur ahnen, die sich in den eisigen Tiefen des Nördlichen Eismeers verbirgt. Beleg dafür ist die Zunahme von Geschwulsterkrankungen und Leukämie, das durch medizinische Forschungen unter den kleinen arktischen Völkern von der Halbinsel Kola bis zur Tschuktschenhalbinsel festgestellt worden ist.

Kürzlich hat die Weltöffentlichkeit ihre Stimme gegen eine Serie von Kerntests erhoben, die Frankreich auf dem Muroroa-Atoll begonnen hat. Aber weder die Stimme der Völker im Stillen Ozean noch die Proteste von Staatsoberhäuptern zeigten auch nur die geringste Wirkung auf die Regierung Frankreichs und ihren Präsidenten Jacques Chirac.

Mit Blick auf ihre französischen Kollegen, vor allem aber inspiriert von der völligen Straffreiheit bei den Kernkraftspielen, reden die russischen Militärs von ihren Plänen, die Kernversuche auf der Insel Nowaja Semlja wieder aufzunehmen.

Falls das geschehen sollte, geht der stille Genozid an den arktischen Völkern weiter und wird sie letzten Endes vollends vom Antlitz der Erde tilgen. Uns hört niemand, denn wir werden immer weniger, unter uns sind nur noch wenige gesunde Menschen, und unsere Stimme wird immer schwächer...

Wir haben es vermocht, das härteste Klima zu überleben, dem hohen Namen MENSCH unter extremsten Existenzbedingungen gerecht zu werden, die uralten natürlichen Feinde des Menschen - Eis, Schnee und Frost - zu unseren Bundesgenossen zu machen, Tod aber und Vernichtung drohen uns von Kräften, die der Mensch selbst geschaffen hat und die angeblich im Namen der Rettung des Menschen weiterentwickelt und erforscht werden.

Wo ist dein Verstand, Mensch, wo deine Logik?

Deutsch von Leonhard Kossuth


VERGESSENE VÖLKER IM WILDEN OSTEN
Bildband von Günther Doeker-Mach
Fototgrafien von Fred Mayer Scalo-Verlag 1993

"... In den Weiten Sibiriens, zwischen der Beringstraße und Wladiwostok, leben Völker, von denen wir noch nicht einmal die Namen kennen: Tschuktschen, Ewenken, Nanei, Ainu, Udegejer, Niwchen, Iteljmenen, Korjaken oder Jukagiren ... Die Frage nach dem Erhalt und der Selbstbestimmung ethnischer Gruppen, Völker, Stämme und der Urbevölkerung (indigenous people) in den nunmehr als Kern-Rußland zu bezeichnenden Gebieten ist noch weitgehend ungelöst und in der Öffentlichkeit kaum diskutiert worden. In dem zu Rußland gehörenden Gebiet,Sibirien', das immer schon Teil Rußlands war und weder unter Lenin noch unter Stalin dem sowjetischen Imperium einverleibt zu werden brauchte, existieren ethnisch autochthone Gruppen, die als eingeborene Völker zu bezeichnen sind und bisher in der Weltöffentlichkeit nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden. Demgegenüber haben sich solche eingeborenen Völker etwa in Kanada, Australien und Amerika (wie beispielsweise Eskimos, Inuit und Indianer) weitgehend einen Status erkämpft, der sie in die Lage versetzt, am politischen Entscheidungsprozeß teilzunehmen, ohne selbst den Anspruch aufeinen selbständigen Staat zu erheben.

In dem Teil Rußlands, der geographisch schlechthin als Sibirien bezeichnet wird, scheint diese Urbevölkerung durch Kolonisierung und Russifizierung nahezu untergegangen zu sein. ( . . . ) Es geht aber auch nicht darum, diesen Völkern und Stämmen nunmehr eine neue ,Staatlichkeit' beziehungsweise ,Nationalität' aufzudrücken, sondern darum, diese Menschengruppen, die in ihrer Geschichte niemals Gelegenheit hatten, sich zu gruppieren und zu formieren, gleichwohl zu schützen und zu erhalten.

Und gerade hier setzt die im Rahmen der Vereinten Nationen begonnene Debatte um den Schutz der Urvölker ein. Auch wenn eine Staatlichkeit nicht gegeben beziehungsweise die Kriterien dazu nicht vorhanden sind, ist es die Pflicht der Weltgemeinschaft, für den Schutz der Urvölker in völkerrechtspolitischer Sicht zu sorgen. Nicht zuletzt konzentriert man sich in den Diskussionen auf den Begriff ,Menschengruppen' beziehungsweise ,Bevölkerungsgruppen' und nicht mehr auf den sonst üblichen ,Minderheitenschutz'."



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