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Anna Politkowskaja

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Zum Tod von Anna Politkowskaja
Elfie Siegl, Berlin/Moskau
A K T U E L L
KaiEhlers:

Kritische Solidarität

in Memoriam Anna Politkowskaja


Verändert: 4c6,24
Der vermutlich politisch begründete Mord an der Moskauer Journalistin Anna Politkowskaja geschah am 7. Oktober, dem Geburtstag von Präsident Putin. Deshalb wurde das Gerücht verbreitet, jemand habe dem russischen Präsidenten schaden wollen. Politkowskajas Tod hat Moskau erschüttert. Auch, weil es der zweite spektakuläre Mord in weniger als einem Monat ist. Mitte September war der erste stellvertretende Leiter der Staatsbank, Andrej Koslow, erschossen worden. Er galt als unbestechlicher Experte, der Banken, die Geld wuschen, die Lizenz entzog.
Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter »Jahrestag der politischen Lüge« zu einer weltweiten Lesung in Memoriam Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: »Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg« verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten »Jahrestag der politischen Lüge« deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor »zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen« gehöre und diese Lüge einer weltweiten »Kritik zu unterziehen«.

Der erste »Tag der politischen Lüge« war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers »Was ich hörte vom Irak« ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.

Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum »Tag der politischenLüge« hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.

Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die »Rebellen« in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche »Säuberungen«, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der »Gesellschaft für bedrohte Völker« nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: »Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.« (GfbV?, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.

In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie »Putin Mörder«, »Putin Diktator«, »faschistisches Russland« konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.

Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen »Bereichert Euch« und »Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt« den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.

Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.

Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.

Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er »die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen« verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, »Die einzige Weltmacht«, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.

Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger »Schurkenstaaten« schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.

Verändert: 6c26
Anna Politkowskaja, 48 Jahre alt, Diplomatentochter und Mutter zweier Kinder, hatte seit sechs Jahren als Sonderkorrespondentin bei der »Nowaja Gaseta«, einer der wenigen unabhängigen russischen Zeitungen, über den Nordkaukasus gearbeitet, fanatisch und ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie schrieb über einfache Menschen auf der Strasse, in den Dörfern. Je mehr sie sich deren Sorgen und Nöte zu eigen machte und versuchte, diesen Menschen zu helfen, desto nervöser, fahriger und deprimierter wurde sie. Sie legte sich mit Militärs und Geheimdienstleuten an, erhielt Morddrohungen, ging deshalb für einige Zeit nach Wien, hielt es dort nicht aus und kehrte nach Moskau zurück, wo sie sich zeitweilig von Leibwächtern beschützen ließ.
Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.

Verändert: 8c28
Bei der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nordost durch tschetschenische Rebellen vor vier Jahren versuchte sie als Unterhändlerin vergeblich, einen blutigen Ausgang der Tragödie zu verhindern. Ihre Berichterstattung über das Geiseldrama in der Schule von Beslan vor zwei Jahren scheiterte wegen einer Vergiftung, die sie sich auf dem Flug dorthin bei einer Tasse Tee zuzog.



Verändert: 10c30,33
Sie recherchierte auch über Korruption und organisiertes Verbrechen in Russland. Fehlentwicklungen in ihrer Heimat lastete sie dem Kremlchef an – für ihr Buch »Putins Russland« fand sie zuhause keinen Verleger, der den Mut hatte, es zu drucken.
Anna Politowskaja

Chronik eines angekündigten Mordes
von Norbert Schreiber

Wieser, 2007; ISBN 3-85129-652-4; 19,80 €

Verändert: 12c35
Die Redaktion der »Nowjaja Gaseta« geht von einem Auftragsmord aus und vermutet eine Verbindung mit einer Reihe von Artikeln der Journalistin über den von Moskau eingesetzten tschetschenischen Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow. So recherchierte sie zuletzt über Folterungen und Entführungen in Tschetschenien, an denen auch militärische Einheiten Kadyrows beteiligt sein sollen – lebensgefährliche Nachforschungen.
Ihre Berichte aus Tschetschenien und ihre Kritik an Präsident Putin wurden Anna Politkowskaja zum Verhängnis. Im Oktober 2006 wurde die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin in Moskau ermordet. Zum Gedenken an die mutige Frau hat Norbert Schreiber zahlreiche Beiträge - Reportagen, Essays, Gespräche, Analysen und Würdigungen - zusammengetragen ...

Verändert: 14c37,57
Russland gehört zu den Risikoländern für Journalisten. Wer nicht im Sinne des Russlandbildes, das der Kreml sich wünscht, berichtet, wird zwar nicht sofort umgebracht, aber man macht ihm nicht selten das Leben schwer. Offizielle Verwarnungen, anonyme Anrufe, subtile Drohungen des Geheimdienstes, Anklagen vor Gericht – das Sortiment der Einschüchterungen ist vielfältig.
* Mehr auf DeutschlandRadio Kultur




Russland ohne Moral?

- KaiEhlers -

Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese »Gräueltat« aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum »Petersburger Dialog« in Dresden mit wütendem »Mörder-Mörder«-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch »das moralische Russland endgültig gestorben«, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.

Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten. Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu »Mörder-Mörder«-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des »moralischen Russland« zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk. Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher »Angst« tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem »Energie-Diktat« eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum »Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa« werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur »Menschenrechtsfrage« auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.




Zum Tod von Anna Politkowskaja
Elfie Siegl, Berlin/Moskau

Der vermutlich politisch begründete Mord an der Moskauer Journalistin Anna Politkowskaja geschah am 7. Oktober, dem Geburtstag von Präsident Putin. Deshalb wurde das Gerücht verbreitet, jemand habe dem russischen Präsidenten schaden wollen. Politkowskajas Tod hat Moskau erschüttert. Auch, weil es der zweite spektakuläre Mord in weniger als einem Monat ist. Mitte September war der erste stellvertretende Leiter der Staatsbank, Andrej Koslow, erschossen worden. Er galt als unbestechlicher Experte, der Banken, die Geld wuschen, die Lizenz entzog.

Verändert: 16c59
Bei uns wird ab und zu, vor allem von Lobbyisten der Wirtschaft, öffentlich gegen Journalisten zu Felde gezogen, die aus und über Russland berichten. Eine derartige Hatz gefährdet diese Journalisten. Die russischen Probleme verschwinden nicht, indem man versucht, Journalisten davon abzuhalten, über sie zu berichten.
Anna Politkowskaja, 48 Jahre alt, Diplomatentochter und Mutter zweier Kinder, hatte seit sechs Jahren als Sonderkorrespondentin bei der »Nowaja Gaseta«, einer der wenigen unabhängigen russischen Zeitungen, über den Nordkaukasus gearbeitet, fanatisch und ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie schrieb über einfache Menschen auf der Strasse, in den Dörfern ...

Verändert: 18c61
* Quelle: Rußlandanalysen Nr. 113
* Weiterlesen: Rußlandanalysen Nr. 113 (PDF)


A K T U E L L KaiEhlers:
Kritische Solidarität
in Memoriam Anna Politkowskaja

Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter »Jahrestag der politischen Lüge« zu einer weltweiten Lesung in Memoriam Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: »Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg« verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten »Jahrestag der politischen Lüge« deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor »zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen« gehöre und diese Lüge einer weltweiten »Kritik zu unterziehen«.

Der erste »Tag der politischen Lüge« war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers »Was ich hörte vom Irak« ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.

Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum »Tag der politischenLüge« hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.

Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die »Rebellen« in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche »Säuberungen«, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der »Gesellschaft für bedrohte Völker« nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: »Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.« (GfbV?, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.

In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie »Putin Mörder«, »Putin Diktator«, »faschistisches Russland« konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.

Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen »Bereichert Euch« und »Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt« den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.

Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.

Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.

Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er »die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen« verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, »Die einzige Weltmacht«, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.

Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger »Schurkenstaaten« schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.

Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.


Anna Politowskaja
Chronik eines angekündigten Mordes von Norbert Schreiber
Wieser, 2007; ISBN 3-85129-652-4; 19,80 €

Ihre Berichte aus Tschetschenien und ihre Kritik an Präsident Putin wurden Anna Politkowskaja zum Verhängnis. Im Oktober 2006 wurde die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin in Moskau ermordet. Zum Gedenken an die mutige Frau hat Norbert Schreiber zahlreiche Beiträge - Reportagen, Essays, Gespräche, Analysen und Würdigungen - zusammengetragen ...


Russland ohne Moral?
- KaiEhlers -

Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese »Gräueltat« aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum »Petersburger Dialog« in Dresden mit wütendem »Mörder-Mörder«-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch »das moralische Russland endgültig gestorben«, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.

Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten. Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu »Mörder-Mörder«-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des »moralischen Russland« zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk. Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher »Angst« tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem »Energie-Diktat« eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum »Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa« werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur »Menschenrechtsfrage« auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.


Zum Tod von Anna Politkowskaja Elfie Siegl, Berlin/Moskau

Der vermutlich politisch begründete Mord an der Moskauer Journalistin Anna Politkowskaja geschah am 7. Oktober, dem Geburtstag von Präsident Putin. Deshalb wurde das Gerücht verbreitet, jemand habe dem russischen Präsidenten schaden wollen. Politkowskajas Tod hat Moskau erschüttert. Auch, weil es der zweite spektakuläre Mord in weniger als einem Monat ist. Mitte September war der erste stellvertretende Leiter der Staatsbank, Andrej Koslow, erschossen worden. Er galt als unbestechlicher Experte, der Banken, die Geld wuschen, die Lizenz entzog.

Anna Politkowskaja, 48 Jahre alt, Diplomatentochter und Mutter zweier Kinder, hatte seit sechs Jahren als Sonderkorrespondentin bei der »Nowaja Gaseta«, einer der wenigen unabhängigen russischen Zeitungen, über den Nordkaukasus gearbeitet, fanatisch und ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie schrieb über einfache Menschen auf der Strasse, in den Dörfern ...


Bücher von Anna Politkowskaja in deutscher Übersetzung

Anna Politkowskaja
"Russisches Tagebuch"
DuMont? Verlag, Köln 2007
350 Seiten, Gebunden, Euro: 24,90, CHF 44.90
ISBN 978-3-8321-8022-5

Am 1. März erscheint das letzte Werk von Anna Politkowskaja (Анна Степановна Политковская). Das "Russische Tagebuch" entstand zwischen Dezember 2003 und September 2005. Politkowskajas Aufzeichnungen beginnen mit Putins Kampagne zu seiner Wiederwahl und enden mit der eindringlichen Frage: Habe ich Angst?

Bis zur Selbstaufgabe engagiert, persönlich und mit Blick für das Schicksal des Einzelnen, beschreibt sie im "Russischen Tagebuch" die Politik ihres Landes dieser zwei weichenstellenden Jahre. Dabei geht es ihr um politische Ereignisse ebenso wie um die Stimmung in der Bevölkerung. Ein Bericht aus erster Hand, der wagt, was in Putins Russland lebensgefährlich ist: die Wahrheit.

So zeigt Anna Politkowskaja nicht nur die Verbrechen der russischen Armee in Tschetschenien, sondern auch jene an den russischen Soldaten und den Kampf ihrer Mütter um die Rechte und Würde ihrer Söhne. Sie prangert Putins "starken Staat" an und schildert das Klima der Resignation, der Angst und der Rechtlosigkeit. Und immer wieder beklagt Anna Politkowskaja die Blindheit und mutwillige Ignoranz des Westens gegenüber den Missständen in ihrer Heimat.

Aus:
Krusenstern - Крузенштерн:
Friedenspreis für Anna Politkowskaja?


Anna Politkovskaja:
Putins Russland
Dumont Literatur und Kunst Verlag (März 2005), 350 Seiten

Rezension von Martin Sander für Deutschlandradio Kultur vom 25.5.2005 [Auszüge]:

Für die russische Autorin Anna Politkovskaja ist ihr demokratisch gewählter Präsident ein typischer Oberstleutnant des KGB, ausgestattet mit der provinziellen Weltanschauung und dem unansehnlichen Aussehen sowie den schlechten Manieren eines sowjetischen Geheimdienstoffiziers.

Dieser Mann spioniert seinen Mitmenschen nach, er steckt voller Rachsucht gegenüber allen, die es gewagt haben, ihn zu kritisieren. Er ist eigentlich ein zweiter Akaki Akakijewitsch, jene Verkörperung des Beamtenkleingeistes, die der Schriftsteller Nikolai Gogol zur Zeit der Zarenherrschaft erfunden und zum Helden seiner berühmten Novelle »Der Mantel« gemacht hat.

Putins Politik kann in seiner zweiten Amtszeit von kaum einem Parlament und kaum einem Richter wirkungsvoll in Frage gestellt werden, geschweige denn durch das Gegengewicht eines Föderalismus. Schließlich werden unter dem wieder gewählten Präsidenten der russischen Föderation die Landesfürsten, die Gouverneure, nicht mehr gewählt, sondern von oben eingesetzt.

Was das für die innere Verfassung der russischen Gesellschaft bedeutet und wie es überhaupt dazu kommen konnte, ist das Thema von Anna Politkovskaja in einer Sammlung von Reportagen, die sich zu einem zweifellos gründlich recherchierten und eindrucksvoll erzählten Dokumentarroman fügen.

Anna Politkovskaja: Tschetschenien.
Die Wahrheit über den Krieg
Dumont Literatur und Kunst Verlag (Januar 2003), 300 Seiten

Rezension von Karl Grobe für die Frankfurter Rundschau 7.2.2003 [Zusammenfassung nach perlentaucher.de]

Eine packende und bewegende, aber trotzdem diff erenzierte Abhandlung über den von den Medien weitgehend totgeschwiegenen zweiten Tschetschenienkrieg ist dieses Buch von Anna Politkowskaja, findet der Rezensent Karl Grobe. Besonders die »eigenen Beobachtungen, die Reportage, sind die stärksten Elemente ihres Buches«. Die Autorin nimmt größtenteils die Perspektive der Opfer des Krieges ein. Auch die Vorgeschichte des Krieges, vor allem den ersten Tschetschenienkrieg und die politischen Interessen hinter dem aktuellen Krieg beleuchtet die Autorin ausführlich. Grobe schätzt an diesem Bericht vor allem, dass es sich nicht um eine abstrakte, akademisch bleibende Arbeit handelt, sondern um »das gründlichste und zugleich persönlichste Buch über diesen Krieg und das Volk, das an ihm zugrunde geht«.


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